Archiv der Kategorie: Deutsche Kolumne

(23.02.2018) Trumps Waffenwahn

Trumps Waffenwahn

 

Anstatt die Waffenlobby zu bekämpfen, kommt Donald Trump mit der nächsten Schnapsidee. Nach dem Amoklauf von Parkland schlägt er vor, Lehrer zu bewaffnet und bewaffnetes Sicherheitspersonal in Schulen zu beschäftigen. Das ist also die Antwort des US-Präsidenten Donald Trump auf die ständigen Amokläufe an US-Schulen, bei denen dutzende Schüler/innen und Lehrer/innen brutal ermordet wurden.

Nach Trump könnten bewaffnete Lehrer sich gegen amoklaufende, bewaffnete Schüler wehren. Nach dieser kranken Logik müssten man dann auch alle Schüler bewaffnen, denn es könnte ja sein, dass durch die Bewaffnung der Lehrer einer dieser Lehrer selbst Amok läuft. Wenn man aber alle Schüler bewaffnet müsste man auch die Eltern bewaffnet, wer ja sonst zu gefährlich mit bewaffneten Kindern. Natürlich müsste man dann auch alle Nachbarn, Einzelhändler, Postboten etc. bewaffneten. Das wäre die Konsequenz, wenn man diese Idee fortführt.

Im Türkischen gibt es ein Sprichwort: Ein Dummer schmeißt einen Stein in den Brunnen und 40 Kluge versuchen es, rauszuholen. Bei jedem Trump Tweet oder bei jeder seiner „Erklärungen“ denke ich an dieses Sprichwort. Trump hat eine kranke Idee und alle Welt diskutiert die Idee, während er selbst sich wahrscheinlich dumm und dämlich lacht.

 

 

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(14.07.2017) Halal-Ernährungsfragen der Muslime in der Diaspora. Kreuzkontamination und mit Alkohol benetzte Verpackungen

Halal-Ernährungsfragen der Muslime in der Diaspora

Kreuzkontamination und mit Alkohol benetzte Verpackungen

 

In Gesellschaften mit muslimischer Mehrheit gibt es theologische Fragen, die sich für Muslime gar nicht erst stellen. Wenn man z.B. in einem Land mit überwiegend Muslimen in einem Lokal fragt, ob das Fleisch halal geschächtet ist, wird man entweder verdutzt angeguckt oder beleidigt. Der Kellner erwidert dann, „Glaubst du, ich bin kein Muslim?“ Obwohl die Frage nach einer Halal-Schächtung auch in Ländern mit überwiegend Muslimen gerechtfertigt und legitim. Immer wieder gibt es in solchen Ländern Skandale, wie z.B. dass in bestimmten Fleischsorten, Fleisch von ganz anderen Tieren gefunden werden.

 

Für Muslime, die in Ländern mit überwiegend Nichtmuslimen leben, sind solche Fragestellungen schon im Alltag verankert. Da schaut man in die Zutatenliste und kontrolliert Gelatine oder Emulgatoren, Aromen oder Ethanol. Wie eben ein Vegetarier, Veganer, Allergiker oder auch Ex-Alkoholiker, der kein Tropfen Alkohol zu sich nehmen darf.

 

Bei all diesen Fragestellungen ergeben sich aber auch durch Unkenntnis Problematiken. Vor allem da, wo es in der vermeintlich islamischen Welt keine Antworten auf bestimmte Fragen gibt, weil sie eben, wie oben dargestellt, weder gesellschaftlich noch theologisch gestellt werden.

 

Solche Fragestellungen sind gegenwärtig die Themen Kreuzkontamination oder auch mit Alkohol benetzte Verpackungen.

 

Dabei sind das gar keine neuen Fragen. Die Frage der Kreuzkontamination ist uralt. Auch zu Zeiten vom Propheten Adam oder vom Propheten Muhammed konnte man sich die Frage stellen, was passiert, wenn sich Lebensmittel absolut unbewusst vermischen. Solch eine Situation gibt es ja nicht seit der modernen Technik, sondern eben seit es Menschen gibt. Wir finden aber in keiner einzigen Quelle eine solche Fragestellung. Obwohl die Gefährten des Propheten Muhammed ihn sehr viele Details befragt haben, gibt es dazu keine einzige Erzählung. Und auch der Prophet Muhammed hat – wie es ja theologisch völlig legitim ist – das geschächtete Fleisch der Ahl-u Kitap gegessen, obwohl man ja auch hier die Frage stellen könnte: „Oh Prophet, wir essen zwar das geschächtete Fleisch der Ahl-u Kitap, aber diese essen ja auch Sachen, die haram sind, kann es nicht sein, dass bei der Zubereitung diese vermischt werden?“ Eine solche Frage wäre absolut legitim. Sie gibt es aber nicht. Weil der Islam keine Religion der “Unmöglichkeiten“ oder gegen jede menschliche Natur ist. Der Islam beachtet die Lebensrealität und ist lebensförderlich und nicht lebensfeindlich

 

Auch spätere Gelehrte haben sich so eine Frage nie gestellt, weil es den Grundideen des Islams wiederspricht. Denn Kreuzkontaminationen passieren jeden Tag und überall. Ständig. Es ist völlig unmöglich diese zu vermeiden. Daher antworten die Hersteller von Produkten auch immer, dass sie es nie 100% ausschließen können. Wie denn auch. Es geht hier um Partikel, Substanzen, kleinste (mit dem Auge unmöglich ersichtlichen) Teile. Wir sprechen also bei Kreuzkontaminationen von wirklich absolut geringen (!!) Mengen, die vor allem nicht bewusst, sondern unbewusst (!!) in ein Produkt gelangen könnten (!!), weil Partikel davon auf dem Tisch (!!) sind.

 

Die Situation ist also uralt. Aber die Frage ist neu. Woran liegt das? Im Grunde ist dies ein Ergebnis von modernen Gesellschaften im soziologischen Sinne. Mit der Modernisierung und Industrialisierung hat sich der Islam von einer Lebensweise in eine mathematisch-durchdachte, Schablone-artige Weise umgewandelt. Eingebüßt hat dabei der Geist, die Spiritualität der Religion. Dies ist der Hauptfaktor auch für die Entstehung von politischen Verfärbungen des Islams.

 

Ein anderer Faktor sind leider die sozialen Netzwerke. Hier wird vieles unwissend verbreitet, ohne sich mit den Themen und vor allem Inhalten auseinanderzusetzen. Da werden dann z.B. in dieser Thematik uralte Schreiben kopiert, ohne sie inhaltlich verstanden zu haben und in die gesamte Welt verschickt und als “neu“ verkauft. Dies führt wiederum zu Verwirrung.

 

Gleichzeitig  haben sich, wie oben schon angedeutet, durch die Auswanderung von Muslimen in Ländern mit überwiegend Nichtmuslimen neue Fragestellungen ergeben. Neue Fragen wurden im Alltag wichtig. Fragen, die in der alten Heimat unbedeutend waren, wie die Frage nach dem Fleisch, dass Eingangs beschrieben wurden.

 

Neue Fragen des Alltags bedürfen neue Antworten. Die Frage nach Halal-Fleisch in der Dönerbude wird für einen Muslim erst dann bewusst, wenn er in der Diaspora lebt. Daher gibt es solche “Diaspora-Fragen“, also Fragen, die im “Ausland“ entstehen. Die meisten dieser Fragen sind sehr wichtig und richtig, manche aber total überflüssig.

 

Zu diesen überflüssigen Fragen gehört auch die Frage nach Verpackungen, die mit Alkohol benetzt sind. „Ist das Produkt in der Verpackung dann noch halal?“ wird dann gefragt… solange man die Verpackung nicht isst!

 

 

Cemil Şahinöz

 

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(14.07.2017) Wie religiös ist die Türkei?

Wie religiös ist die Türkei?

In den letzten Jahren haben in der Türkei sozialwissenschaftliche und religionssoziologische Studien, die empirisch arbeiten, zugenommen. Der gesellschaftliche Wandel in der Türkei hat auch Institutionen und Einrichtungen hervorgebracht, die diesen Wandel soziologisch untersuchen. Vor allem die Religiosität der Türken in der Türkei steht dabei im Fokus.

 

Hierzu gab es bereits 2014 eine breit angelegte Studie mit dem Titel “Religiöses Leben in der Türkei“. Diese Studie wurde von Diyanet (2014) – dem Präsidium für Religionsangelegenheiten in der Türkeiin Kooperation mit dem Statistischen Amt der Türkei durchgeführt. 21632 Personen in 81 Provinzen wurden damals befragt. Die Studie wurde aufgeteilt in sechs Bereiche: Religiöse Identität, Glaube, Gottesdienst, Religionswissen, Leben und Religion, Religiosität.

 

2017 gab es eine ähnliche Studie, die vom Forschungsinstitut MAK (2017) durchgeführt wurde. Auch hier wurde die Religiosität der Befragten abgefragt. Die Studie wurde in 30 Großstädten (Ağrı, Aksaray, Artvin, Bayburt, Bitlis, Bolu, Düzce, Elazığ, Giresun, Gümüşhane, Karaman, Karabük, Kars, Kastamonu, Kırıkkale, Kırklareli, Kütahya, Nevşehir, Osmaniye, Sinop, Bilecik, Yozgat und Uşak), 23 Provinzen und 154 Distrikten durchgeführt. 5400 Personen wurden Face-to-Face befragt. 53,5% der Befragten sind männlich, 46,5% weiblich.

 

An dieser Stelle sollen die Ergebnisse beider Studien (da, wo es geht) verglichen und ein kurzes Fazit gezogen werden. Der Fokus liegt dabei auf der aktuelleren Studie, welches mit der Studie von 2014 verglichen wird.

 

86% der Teilnehmer geben an, dass sie irgendeiner Religion angehören. 6% bezeichnen sich als Deisten. 4% sind Atheisten und weitere 4% Agnostiker. Zum Vergleich: In der Studie von 2014 gaben 99,2% der Teilnehmer an, dass sie Muslime sind und 98,7% hatten keinen Zweifel darüber, dass es einen Schöpfer gibt. 87,5% bezeichneten sich als religiös. 20,9% gaben an, dass es egal ist, was oder wie sie glauben, solange sie moralisch korrekt sind. Insgesamt ist dies ein deutlicher Rückgang. Zudem gaben 2014 die Befragten zur Frage nach ihrer islamischen Rechtsschule an, dass sie 77,5% hanafitisch, 11,1% schafiitisch, 1% caferitisch, 0,3% malikitisch und 0,1% hanbalitisch sind. 6,3% gaben an, dass sie keiner Rechtsschule angehören und 2,4% wussten ihre Zugehörigkeit nicht.

 

75% der Befragten geben an, dass sie an die Offenbarungen und Engel Gottes glauben, 15% glauben nicht daran und 10% wissen es nicht. In der Studie von 2014 sagten 96,5% aus, dass alles, was im Koran steht, richtig ist und für alle Zeiten seine Gültigkeit behält. 95,3% glaubten an die Existenz von Engeln, Dschinn und Teufel. Auch hier ist ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen.

 

Interessanter wird es, wenn man den Bezug zum Koran abfragt. Nur 25% sagen, dass sie den Koran zu Hause haben und lesen. 32% haben den Koran zwar zu Hause, lesen ihn aber nicht. 33% haben gar keinen Koran zu Hause und 10% haben gar keinen Bezug dazu. Dass bedeutet, nur 55% haben einen Koran zu Hause. Angesichts der Wahrnehmung der türkischen Gesellschaft scheint diese Zahl niedriger als erwartet zu sein. 32% können den Koran lesen, 54% nicht. 14% machen keine Angabe dazu. 25% besuchen einen Korankurs, 65% keinen. 10% geben keine Antwort dazu. 10% haben den Koran schon einmal auf Türkisch gelesen, 60% haben ihn nicht gelesen und 23% beantworten die Frage nicht. Bei der Studie 2014 sagten 41,9% aus, dass sie den Koran auf Arabisch lesen können.

 

Der Anteil der Befragten, die glauben, dass Gott einen Propheten schickte, beträgt 63%. 20% sagen, dass sie den Propheten Muhammed nicht in allen Lebenslagen zum Vorbild nehmen. 9% glauben an keine Prophetenschaft und 8% machen keine Aussage dazu. 2014 sagten noch 97,7%, dass sie an die Prophetenschaft Muhammeds glauben.

 

23% haben schon einmal die Biographie des Propheten Muhammed gelesen. 65% haben sie nicht gelesen. 12% machen keine Angaben dazu.

 

55% glauben an den Schicksalsbegriff. 15% gehen davon aus, dass alles determiniert ist. 10% sagen, dass der Mensch sein eigenes Schicksal macht, 10% glauben nicht ans Schicksal und 5% wissen es nicht. Auch hier der Vergleich: 98% bestätigten 2014, dass alles mit Gottes Willen geschieht.

 

73% glauben an ein Leben nach dem Tod. 10% glauben nicht, dass es ein jüngstes Gericht geben wird. 10% glauben an keine Auferstehung und 8% interessieren sich nicht dafür. 2014 sagten 96,2%, dass sie an ein Leben nach dem Tod glauben.

 

Auf die Frage, ob sie sterben wollen würden, wenn man ihnen das Paradies garantieren würde, sagen 15% „Ja“. 65% sagen „Nein“ und 20% können sich nicht entscheiden.

 

32% geben an, dass sie zum Freitagsgebet und an besonderen Nächten zur Moschee gehen. 30% gehen nie in eine Moschee. 12% nur an den Festtagsgebeten am Ramadanfest und Opferfest. 13% gehen regelmäßig in die Moschee. 13% geben keine Antwort dazu.

 

Die Grundsäule des Islams ist das 5-mal-tägliche Beten (salat). 22% sagen, dass sie 5-mal täglich beten. Exakt der gleiche Anteil von 22% ergibt sich bei den Personen, die nie beten. 26% beten ab und zu, 26% beten das Freitagsgebet und Festtagsgebete. 6% antworten nicht. 2014 gaben 42,5% an, dass sie 5-mal am Tag beten und 16,9% sagten, dass sie das rituelle Gebet nicht einhalten. 57,5% besuchten regelmäßig das Freitagsgebet. 74,4% fühlten sich unwohl, wenn sie keine Gottesdienste machen. 7,9% sagten, dass eins der wichtigsten Kriterien für Religiosität es ist, an wichtigen religiösen Tagen Gottesdienste abzuhalten

 

Der Anteil der Ausführenden erhöht sich bei den Fürbittgebeten (dua). 75% geben an, dass sie Fürbittgebete machen. 10% gelegentlich, 6% nie und 4% machen keine Aussage dazu. 2014 machten 92,5% Fürbittgebete, auch ohne einen speziellen Grund hierfür zu haben.

 

Auch beim Fasten ist ein hoher Anteil ersichtlich. 45% sagen, dass sie fasten. 25% fasten gelegentlich. 30% fasten nie und 10% verweigern die Antwort. 2014 gaben 83,5% an, dass sie fasten, wenn es ihre Gesundheit zulässt.

 

30% beziehen ihre Religionskenntnisse aus theologischen Büchern. Für 45% sind Internet und Fernsehen die Quelle ihrer Informationen. 20% fragen jemanden, dem sie zuschreiben, dass er es wissen müsste. 5% antworten nicht. 2014 sagten 47,4%, dass sie ihr religiöses Wissen größtenteils im Alter von 6 bis 10 Jahren angeeignet haben.

 

15% sehen sich zu einer islamischen Gruppierung zugehörig. 60% haben keinen Bezug. 25% machen keine Angaben dazu.

 

Auch zur Gülen Bewegung gibt es eine Frage. Es wird gefragt, ob die Bewegung dazu geführt hat, dass man skeptisch gegenüber religiösen Gruppierungen geworden ist. 35% bejahen diese Aussage. 50% sagen daher, dass der Staat solche Gruppierungen prüfen müsse. 12% sagen, dass sich für sie nichts verändert hat und 3% sind unentschlossen. 2014 sagten 50,5%, dass religiöse Gruppen wichtig sind.

 

51% der Befragten sagen, dass die Religion bei der Wahl des Ehepartners wichtig ist. Da der Anteil der Praktizierenden nicht so hoch ist, kann hier davon ausgegangen werden, dass Religion teilweise als Kultur aufgefasst wird, obwohl Kultur und Religion auch im Widerspruch zueinander stehen können. 24% sagen, dass Religion bei der Wahl des Ehepartners teilweise wichtig ist. Für 20% ist es nicht wichtig und 5% sind unentschlossen. 2014 sagten 92%, dass nach der standesamtlichen Trauung, auch die Trauung vor einem Imam stattfinden muss.

 

30% wünschen sich, dass ihre Ehepartner genauso religiös sind, wie sie selbst. 45% wünschen sich, dass der Ehepartner religiöser ist als man selbst und 15% weniger als man selbst. 10% ist der Anteil der Unentschlossenen.

 

Bei der Begrüßung sagen 41% „Assalamu Alaikum“, 24% sagen „Hallo-Guten Tag“, 30% sagen „Wie geht´s?“ und 5% geben keine Antwort dazu.

 

Interessant ist der Anteil der Personen, die sagen, dass der Politiker, den sie wählen, religiös sein sollte. Für 51% ist dies wichtig. Religion wird hier verknüpft mit Vertrauen und Ehrlichkeit, welches sie dann von den jeweiligen Politikern erwarten. 24% sagen, dass es teilweise wichtig ist. 20% sehen es nicht als wichtig an und 5% machen keine Aussage dazu.

 

54% bejahen die Frage, ob sie sich einen Khalifen wünschen. 40% sagen „Nein“. 6% machen keine Angaben dazu.

 

90% geben an, dass sie es bereuen, wenn sie sündigen. Dies scheint ein sehr hoher Wert zu sein. 2% bereuen es nicht und 8% geben gar keine Antwort dazu. 2014 waren 46% der Meinung, dass Gebotenes und Verbotenes im Kontext der Gegenwart noch einmal bedacht werden müsste.

 

65% machen die Ganzkörperwaschung, die in bestimmten Situationen eine theologische Notwendigkeit darstellt. 17% machen es ab und zu, 13% wissen nicht, was das ist und 5% haben keine Meinung dazu.

 

Aus der Studie von 2014 gab es noch weitere Ergebnisse, die hier aber nicht vergleichbar sind: 85% sagten, dass sie die Pilgerfahrt nach Mekka machen würden, wenn sie die Gelegenheit dazu finden. 72% der Teilnehmer machten jährlich ihre Zakat-Abgaben. 71,6% der Frauen bedeckten sich. 69,5% schlachteten ein Opfertier zum Opferfest, wenn sie dazu in der Lage sind. 61,5% gaben an, dass durch den Laizismus der Islam frei gelebt werden kann. 7,1% gaben an, dass es nicht gegen das (religiöse) Recht eines anderen verstößt, wenn man sich nicht an die Verkehrsregeln hält. 6,4% waren der Meinung, dass es keine Sünde ist, Alkohol in einer Menge zu trinken, welches nicht betrunken macht. 11,7% glaubten, dass unislamische Praktiken nötig sind, um sich vom Einfluss von bösen Blicken zu befreien.

 

Diyanet führte 2014 eine weitere Studie durch (vgl. Akgün, 2014). Diese kam zum Ergebnis, dass viele Praktiken (Aberglaube, Riten usw.) einen vorislamischen Hintergrund haben. 1380 unterschiedliche Praktiken konnten dazu festgestellt werden. Die meisten thematisierten die Familie. 335 Aberglauben und Riten in Bezug auf Familie konnten gefunden werden. Die Bereiche lassen sich insgesamt aufteilen in: 335 Familie, 319 Glück und Unglück, 272 Beerdigung, 78 Gesundheit, 73 Grabmal, 49 Frühlingsfest Hıdırellez, 39 Leben nimmt einen positiven Weg ein, 36 rituelles Gebet (salat), 31 Böser Blick, 26 Fürbittgebet (dua), 25 Opfer, 23 Pilgerfahrt, 17 Religiöse Tage, 12 Gäste, 12 Feiertage, 9 Zauber, Fluch, 9 Dschinn, Geister, 8 Aschura, 7 Gebotenes-Verbotenes, 6 Amulett, 2 Sonnen- und Mondfinsternis.

 

Fazit: Insgesamt ist ein deutlicher Rückgang, sowohl in Bezug auf die Glaubensinhalte als auch in der Orthopraxie ersichtlich. Dass heißt, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis (in der Umsetzung im Alltag) gibt es große Differenzen und einen großen Rückgang in der Religionsausübung.

 

Auch wenn die Diyanet-Studie viel repräsentativer ist als die MAK Studie, da sie umfangreicher und in der gesamten Türkei durchgeführt wurde, ist in der MAK Studie eine Tendenz ersichtlich. Die türkische Gesellschaft wird nicht unbedingt religiöser[1]. Studien zu anderen Themen belegen eine steigende Wirtschaftlichkeit, Verstädterung und Modernisierung der Türkei. Doch die Religiosität schwankt.

[1] Die Schwankung der Religiosität kann aber auch das Ergebnis unklarer Begrifflichkeiten sein oder nicht eindeutiger Fragetexte der Forschungen.

 

 

Literatur:

  • Akgün Z. (2014): Hurafeler inanç eksikliğinin göstergesi. In: Moral Dünyası, September 2014, S. 32-35
  • Diyanet (Hrsg.) (2014): Türkiye´de dini hayat araştırması. Ankara: Diyanet
  • MAK (Hrsg.) (2017): Türkiye´de toplumun dine ve dini degerlere bakisi. Ankara: MAK

 

Cemil Sahinöz, Islamische Zeitung, 14.07.2017

https://www.islamische-zeitung.de/wie-religioes-ist-die-tuerkei/

Huffington Post, 16.07.2017

http://www.huffingtonpost.de/cemil-sahinaz/wie-religioes-ist-die-tue_b_17473706.html

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(03.07.2017) Scharia vs. Grundgesetz? Ein Lebensweg und kein Grundgesetz

Scharia vs. Grundgesetz?

Ein Lebensweg und kein Grundgesetz

In eher polemischen Diskussionen wird immer wieder behauptet, dass für Muslime die Scharia über dem Grundgesetz stehen würde. Die Muslime würden sich daher nicht an das Grundgesetz halten, sondern an die Scharia und an den Koran.

Was in Diskussionen auf diesem Niveau nicht behandelt, ja nicht einmal hinterfragt wird, sind Fragen, was überhaupt die Scharia ist, was sie genau bedeutet, was es heißt, sie mit dem Grundgesetz zu vergleichen.

Dabei ist die Scharia, nicht wie immer wieder angenommen wird, ein Regelwerk oder ein Grundgesetz, sondern es ist eine Lebensweise der Muslime. Wortwörtlich übersetzt heißt Scharia „der Weg zur Tränke“, sinngemäß heißt es „der gerade Weg“. Es ist also ein “Weg“, eine Lebensweise, eine Lebensphilosophie. Ein Weg, der zur Weisheit und Reife führen soll.

Die (Rechts)Quellen der Scharia sind der Koran (Offenbarung Gottes), die Sunna (Taten und Aussprüche des Propheten), Idschma (Konsens der islamischen Rechtgelehrten) und Qiyas (Analogieschluss). Die Scharia ist daher ein System, das aus diesen Quellen geschöpft wird.

An Hand dieser Quellen sehen wir aber, dass 99% der Scharia aus Moral und Ethik besteht. Der Islamgelehrte Said Nursi hierzu: „Scharia besteht zu 99% aus Ethik, Gebet, Jenseits und Tugendhaftigkeit. Nur 1% ist Rechtsordnung, und damit sollten sich die Regierenden befassen“ (Nursi, 2001c, S. 59). An anderer Stelle heißt es: „Wir haben den Sinn und das Ziel der Scharia nicht begriffen […]. Scharia, welche zu neunundneunzig Teilen von hundert Teilen dich angeht. Ein Teil betrifft und obliegt den Regierenden“ (vgl. Nursi, 1978, S. 23).

Daher ist die Scharia keine bloße Rechtsordnung oder ein Gesetzbuch, sondern eine Lebensweise. So ist die Scharia auch nicht verschriftlicht oder kodifiziert. Wer nach einem “Sharia-Gesetzbuch“ sucht, sucht also vergebens.

Ohnehin war die Scharia oder der Koran noch nie in den muslimischen Gemeinschaften das Grundgesetz. Noch nie hat der Koran das Grundgesetz ersetzt. Jedes Land, in dem überwiegend Muslime lebten, hatte selbstverständlich ein Grundgesetz. So z.B. als der Prophet Muhammed in Medina “regierte“. Hier wurde nicht die Scharia als Gesetzbuch genommen, sondern eine Verfassung, die alle Religion und Kulturen mitberücksichtigte. Auch heute haben Länder mit überwiegend Muslimen Grundgesetze und es wird selbstverständlich nicht darüber diskutiert, diese mit einem “Scharia-Gesetzbuch“ zu ersetzen, weil Muslime diese beiden nicht vergleichen oder gleichsetzen. Die Diskussion “Scharia oder Grundgesetz?“ ist daher keine innermuslimische Diskussion, sondern eine europäische Diskussion.

Naturgemäß ist es so, dass die Grundgesetze vom Koran inspiriert waren und sind. So wie auch gegenwärtig viele Grundgesetze in Europa und der Welt von der Bibel, oder das Grundgesetz in Israel von der Thora inspiriert sind. Grundlegende Werte, wie Demokratie, Meinungsfreiheit oder Menschenrechte sind aus den Offenbarungen inspiriert. So haben auch muslimische Gemeinschaften ihre Inspiration aus dem Koran geschöpft. Dabei waren die Grundsätze „Jeder ist frei in seiner eigenen Religion“ und „Jeder ist frei in der Religionsauslebung“ nicht nur bloße Theorien, sondern gelebte Praxis. Dies sehen wir auch beim Propheten Muhammed, der in Medina als Oberhaupt der Bevölkerung, die Christen und Juden ihre Religion ausüben lies. Die Rechte der Christen und Juden zur Religionsausübung waren in der o.g. Verfassung fest verankert.

Auch gab es in der Geschichte nie ein Land, eine Nation oder eine Gemeinschaft, dass sich “Islamisches Land“ oder ähnlich bezeichnete. Als der Prophet Muhammed nach Yathrib kam, wurde der Name in Medina umgeändert, was einfach nur “Stadt“ bedeutet. Auch das Osmanische Reich, welches 623 Jahre herrschte, nannte sich in all diesen Jahrhunderten nicht “Islamischer Staat“. Daher kann sich keine Gemeinde, Nation oder Land heute das Recht nehmen, sich so zu bezeichnen. Nicht Länder, sondern Personen können muslimisch sein.

Daher sind Diskussionen, ob die Scharia mit dem Grundgesetz vereinbar ist, sinnlos und zeigen nur eine große Unkenntnis gegenüber dem Islam. Sie dienen häufig nur als Polemik oder sollen öfters eine gewisse Islamophobie verschleiern.

Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, Juli 2017
https://www.islamische-zeitung.de/ein-lebensweg-und-kein-grundgesetz/

cemil@misawa.de

https://www.facebook.com/CemilSa

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(04.05.2017) Christoph Kolumbus – Entdecker oder Völkermörder

Christoph Kolumbus – Entdecker oder Völkermörder

 

 

Entdecken bedeutet, dass man Etwas, was zwar existiert, aber unbekannt ist, findet. Laut dem Duden ist es das Finden von etwas Verborgenem. Etwas, was also unbekannt und verborgen ist.

 

Amerika war 1492, als Christoph Kolumbus sich verirrte (er wollte eigentlich nach Indien) und dort landete, selbstverständlich nichts Unbekanntes oder Verborgenes. Viele andere Völker hatten sich schon Jahrhunderte vorher dort niedergelegt und lebten dort weiterhin.

 

Als Kolumbus also in Amerika ankam, lebten schon die Indianer auf diesem Lande. Deren Vorfahren waren Jahrhunderte zuvor von Asien nach Amerika gereist. Auch viele isländische Gruppen waren vor Kolumbus in Amerika gelandet und hatten sich Städte aufgebaut.

 

Das Wort “Entdecken“ ist also nur aus Sicht Europas zu verstehen. Ansonsten hat Kolumbus nichts entdeckt, was nicht vorher schon bekannt war.

 

Fern von Entdeckungsdiskussion ist jedoch ein ganz anderes Problem zentral. Was machte der “Entdecker“ Kolumbus als er in Amerika landete?

 

Im Grunde begann ein flächendeckender Kolonialismus Amerikas. Die Indianer (Native Americans) wurden brutal verfolgt und massakriert. Völkermord ist wohl der Begriff, der das ganze am treffendsten beschreibt.

 

Nicht nur, dass die Indianer enteignet wurden, sondern man brachte auch Tausende Sklaven aus Afrika zum “neuentdeckten“ Land. Alkohol war dabei ein wichtiges Tauschmittel. Sowohl die einheimischen Indianer als auch die neukommenden Afrikaner wurden mit Alkohol betäubt. Noch heute ist der Alkoholkonsum, parallel mit erhöhten Depressionen, eins der größten Probleme der noch lebenden Indianer in Amerika.

 

Auch gegenwärtig befinden sich Indianer in Amerika in einem vergleichbar sehr schlechten Zustand. Rassismus und Chancenungleichheit ist für sie genauso verbreitet, wie für Afroamerikaner. Bis heute werden sie nicht als die eigentlichen einheimischen Amerikas behandelt und für den Völkermord nicht entschädigt.

 

Cemil Sahinöz

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(29.03.2017) Inside Islam? Outside Islam. Ein Moscheereport.

Heute habe ich den „Moscheereport“ von Constantin Schreiber erhalten. Eigentlich hatte ich vor, eine ausführliche Analyse des Reports zu machen, doch nach den ersten 70-80 Seiten des Buches erübrigte sich dies.

Warum?

Der Moscheereport geht nach folgendem Muster vor. Erst wird kurz berichtet, was weltweit in der Woche der Freitagspredigten passierte. Dann wird die jeweilige Moschee vorgestellt, es folgt eine Transkription der Freitagspredigt und danach eine Diskussion/Interview über diese Predigt.

Wo liegt das Problem?

Die Predigten behandeln theologische Phänomene. Sie sind in einem theologischen Kontext zu verstehen. Sie widerspiegeln keine aktuellen politischen Debatten wieder. Doch genau dies wird in den Interpretation der Predigten gemacht. Wenn z.B. der Imam von unmoralischen Verhaltensformen spricht (so wie in der Kirche, Synagoge oder jeder Ethik-Konferenz auch), wird dies so interpretiert, als sei hier die deutsche Gesellschaft gemeint. Dies sei dann ein Zeichen für Desintegration.

Leider hält das Buch bis zum Ende dieses Format bei. Dementsprechend sind die Ergebnisse. Theologische Aussagen werden vom Kontext gerissen und in aktuell politische Statements umgewandelt. Ein fataler Fehler. Von Wissenschaftlichkeit und Neutralität zeugt das nicht gerade.

Hier ein Beispiel: An einer Stelle spricht ein Imam von der „Verwerflichkeit von allem Neuen“. In der islamischen Theologie nennt man dies Bid´a. Gemeint ist damit, dass es theologisch nicht erlaubt ist, neue islamische Rituale in den Islam einzuführen. Dieses „Neue“ gilt als „verwerflich“. Es geht hier also nur um neue Rituale, Aberglauben usw.
Der Autor jedoch interpretiert diesen theologischen Begriff als einen gesellschaftlichen Begriff und glaubt, dass damit alles Neue aus der Gesellschaft verwerflich sei. Das führt dann zu dem Ergebnis der Integrationsverweigerung.

Anderes Beispiel: Ein Imam spricht von Yazid. Einem Tyrannen aus der Geschichte. Der Autor versteht hier aber Jesiden und interpretiert, dass der Imam gegen Jesiden hetzt. Ein schwerwiegender Fehler.

Leider gibt es mehr als eine Handvoll solcher erheblichen Fehler.

Umso erstaunlicher ist es, dass Constantin Schreiber an mehreren Stellen den Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung, welches wissenschaftlich methodisch sauber vorangegangen ist und vor allem repräsentativ ist, kritisiert und seine eigenen wenigen Moscheebesuche als repräsentativ darstellt.

Selbstverständlich hat das Buch keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Dem „Durchschnittsleser“ wird dies aber nicht viel interessieren. Die Wirkung des Buches ist daher nicht gut. Immerhin geht es hier um eine Community, der mehr als 5 Millionen Menschen in Deutschland angehören. Da hätte man viel genauer hingucken und theologische Texte in ihrem Kontext sehen müssen.

Cemil Şahinöz

IslamIQ, 20.04.2017

Islamische Zeitung, 20.04.2017

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(22.02.2017) Jesusvorstellung im Islam und die Trinitätslehre

religion-betrifft-uns-1-2017

Religion betrifft uns, Schulheft für den christlichen Religionsunterricht, 1/2017, S. 24

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(20.02.2017) Bilderverbot im Islam

Bilderverbot im Islam

 

Bilder sagen mehr als tausend Worte, heißt es bekanntermaßen. Bildern wird damit eine wesentliche Rolle in der Informationsübermittlung zugesprochen, unabhängig davon, ob sie eine positive oder negative oder richtige oder falsche Botschaft erzeugen. In sozialen Medien werden Beiträge ohne Bilder kaum angeklickt und Zeitschriften sind mit Bildern zugepflastert. Daher bietet sich an, dieses Phänomen im Zeitvergleich zu analysieren.

So wird auch in der islamischen Theologie auf Bilder eingegangen. An Hand einiger Aussprüche des Propheten Muhammed, lässt sich zeigen, dass gewisse Bilder nicht gern gesehen wurden. Vor allem waren es Bilder, die zum Anbeten oder übertriebener Verehrung führten. Skulpturen von Personen oder anderen lebendigen Wesen, die angebetet wurden, oder als Götter bezeichnet wurden, wurden schon in der Frühzeit des Islams theologisch angefochten. In diesem Rahmen waren auch Bilder oder skulpturenähnliche Gegenstände verboten, die die neuen Gläubigen zu ihrem alten Götzendienerglauben zurückführen konnten. Später, z.B. in der Medina-Zeit des Propheten ab 622 waren dann gewisse Sachen nicht mehr verboten, da der Glauben schon verfestigt war.

Analog hierzu kann man auch Gedichte betrachten. Während Gedichte zur Anfangszeit der Offenbarungen nicht gerne gesehen wurden, stellten sie später kein Problem mehr da. Selbst der Prophet hatte einen eigenen Dichter, seinen Gefährten Hassan ibn Thabit.

Ein Bilderverbot, das jedoch weiterhin gilt, ist das Abbilden von Gott oder seiner Propheten. Da wir nicht wissen, wie Gott oder seine Propheten aussehen, ist es auch nicht gestattet, diese zu malen oder zu zeichnen. Denn, wie oben schon angedeutet, haben Bilder einen großen Einfluss im Unterbewusstsein. Durch die Darstellung von Gott oder seinen Propheten auf irgendeine Art und Weise, verinnerlicht man sich diese Darstellung und geht davon aus, dass das Abgebildete auch tatsächlich so aussieht. So können aber auch im Kopf negative Assoziationen mit abgebildeten Einzelheiten, wie Hände, Füße, Haare, Gesicht entstehen, die dann auf den abgebildeten Gott oder Propheten unterbewusst übertragen werden. Ganz oberflächlich ausgedrückt, wenn jemand viele schlechte Erfahrungen mit Personen gemacht hat, die die gleichen langen, glatten, schwarzen Haare haben und sich dadurch auch Vorurteile über diesen Personentyp gebildet hat, wird im Unterbewusstsein psychisch negativ beeinflusst sein, wenn er das Bild eines Propheten mit den gleichen langen, glatten, schwarzen Haaren sieht. Dies sind psychologische Prozesse, die sich im Unterbewusstsein abspielen. Ein anderes Beispiel wäre die Darstellung von Jesus. Während wir im europäischen Raum einen weißfarbigen Jesus in Bildern sehen, ist Jesus in sehr vielen afrikanisch-christlichen Abbildungen ein schwarzfarbiger Jesus. Denn ein „Weißer“-Jesus ist in einigen Teilen Afrikas negativ konnotiert.

Um diesen negativen Beeinflussungen und eben der Tatsache, dass man in der Tat nicht weißt, wie Gott oder seine Propheten aussehen, verzichtet man im Islam auf ihre Darstellung.

Cemil Sahinöz

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(23.11.2016) Islamische Wohlfahrtspflege

Mein Artikel zum Thema „Islamische Wohlfahrtspflege“ im neuen Band von Ceylan und Kiefer

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(23.11.2016) Menschenzoos – Der tiefste Punkt der Menschheitsgeschichte

Menschenzoos – Der tiefste Punkt der Menschheitsgeschichte

Der Islam lehnt jede Art von Rassismus und Diskriminierung ab. Egal, aus welchen Gründen oder Motiven sie kommt.

In seiner Abschiedspredigt sagte der Prophet Muhammed: „Ein Araber ist nicht vorzüglicher als ein Nichtaraber, noch ein Nichtaraber vorzüglicher als ein Araber; ein Schwarzer ist nicht vorzüglicher als ein Weißer, noch ein Weißer vorzüglicher als ein Schwarzer, außer durch Frömmigkeit. Die Menschen stammen von Adam, und Adam ist aus Erde. Wahrlich, jedes Privileg, sei es auf Grund von Blut oder Besitz, ist unter diesen meinen Füßen ausgelöscht.“

Dabei rezitierte der Prophet den Koranvers: „O ihr Menschen, Wir haben euch von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Der Angesehenste von euch bei Gott, das ist der Gottesfürchtigste von euch“ (Der Koran: 49,13).

Dass heißt, es gibt Unterschiede zwischen den Menschen und den Völkern, nicht weil die einen höher als die anderen sind oder damit man sich leugnet und miteinander im Streit liegt, sondern damit man sich durch Neugier kennenlernt, die Anlässe des gesellschaftlichen Lebens kennenlernt und sich dabei gegenseitig unterstützt.

Kriege weltweit zeigen uns aber, dass auf Grund von Rassismus und Machtwahn die ganze Welt aufgeteilt wird wie in einem Zoo. Die einen Gruppen sollen hier leben, die anderen dort und sie sollen sich bloß nicht näherkommen. Man stelle sich vor, die einen Gruppen sind in diesem Käfig, die anderen in dem anderen. So könnte man einige Grenzziehungen verstehen, die es zwischen Ländern, ja sogar zwischen Städten gibt und gab.

Was sich unmenschlich, unvorstellbar, grausam und barbarisch anhört, hat jedoch tatsächlich stattgefunden. Und zwar im wahrsten Sinne des Worte: Menschenzoos, die „Völkerschau“ genannt wurden. (Anmerkung: Auch Tierzoos sind nicht im Sinne des Islams, da hier die Freiheit der Tiere geraubt wird und sie sinnentfremdet genutzt werden).

Von 1870 bis teilweise nach dem 2. Weltkrieg gab es in einigen Städten Menschenzoos. Menschen und Gruppen, die „anders“ aussahen, wurden in Ausstellungen wie „exotische“ Tiere präsentiert. Schaulustige Menschen bezahlten Ticketpreise und bestaunten ihre „Artgenossen“.

Auch wenn die Organisatoren mit den Menschen, die sie zur Schau stellten, Verträge, z.B. nach Dauer und Bezahlung der Schau, abschlossen, bleibt das ganze Schauspiel ein Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte. Auch das beschönigende Wort „Völkerschau“ kann nicht verharmlosen oder verschleiern, dass es de facto nichts anderes als Menschenzoos waren.

Nach Aussehen, Hautfarbe, Haarfarbe, Geschlecht, Größe, mit oder ohne Behinderung wurden diese Menschen „ausgestellt“. Kinder und Erwachsene allen Alters und beiden Geschlechts wurden ausgestellt. Teilweise mit Hilfe von Tierfängern wurden immer mehr Menschen zur Ausstellung in die Zoos gebracht.

Wie in einem Zoo für Tiere war es verboten, die „Menschen zu füttern“, den auf Grund von unbekannten Nahrungsmitteln könne es zu Erkrankungen führen. Das war natürlich nicht im Sinne des Zoobesitzers. Nicht der Menschen willen, sondern damit „The Show must go on“.

Tod, Hochzeit oder Geburt waren große Highlights. Wohlgemerkt, dass diese nicht inszeniert waren, sondern absolute Realität. Die „Zuschauer“ schauten sich dann eine Trauerfeier, eine Beerdigung oder eine Geburt an. Dementsprechend mussten sie zahlen. (Erinnert an gegenwärtige, inszenierte „Reality“-Shows).

Die „Völkerschaus“ führten nicht, wie Befürworter immer wieder sagten, dazu, dass es zur Völkerverständigung kam, weil man dadurch eine fremde Kultur besser kennenlernte, sondern vielmehr dazu, dass Klischees und rassistische Vorurteile bekräftigt und koloniale Verhältnisse wiederbelebt wurden. Den letztendlich besuchte und beobachtete „der überlegene Zuschauer“ den anderen „zurückgebliebenen, erniedrigten Zoomenschen“. Das ist der Eindruck, der hinterher in den Köpfen blieb.

In Deutschland gab es ca. 300 außereuropäische Menschengruppen, die “ausgestellt“ wurden. In manchen Zoos gab es über 100 Menschen. Sowohl in Großstädten als auch in kleineren Städten gab es solche Zoos, z.B. in Hagenbeck, wo Willy Karembeu, der Urgroßvater des französischen Fußballweltmeisters Christian Karembeu, als angeblicher Kannibale präsentiert wurde. Millionen Menschen besuchten solche Ausstellungen.

Zwischen 1870 und 1910 gab es über 50 Ausstellungen in Wien. Bei der Pariser Weltausstellung 1889 waren die Einweihung des Eifelturms und die Ausstellung „Negerdorf“ mit 400 Afrikanern Hauptattraktionen. Knapp 18 Millionen besuchten den „Dorf“.

1886 wurden auf der Schweizerischen Landesausstellung 230 Sudanesen präsentiert. 1897 gab es in Brüssel ein Dorf mit 267 Afrikanern, dass auf der Weltausstellung ausgestellt wurde. 1931 gab es auf dem Münchner Oktoberfest die Ausstellung „Kanaken der Südsee“. 1937 gab es ein „Eingeborenendorf“ im Düsseldorfer Zoo.

Völkerschau wurde zur Mode. In Tierzoos, im Zirkus auf Märkten oder verschiedenen Festen wurden Menschen und Gruppen „ausgestellt“.

Als 1940 in Deutschland ein „Auftrittsverbot“ für „Farbige“ verhängt wurde, gab es in Deutschland keine Menschenzoos mehr. In anderen Städten Europas wurden sie erst nach dem 2. Weltkrieg nach und nach geschlossen. In Belgien wurde der letzte Menschenzoo erst 1958 geschlossen. In Deutschland gab es auf dem Oktoberfest 1950 eine Apachen-Show und 1951 und 1959 eine Hawaii-Show.

Auf Grund des „großen Erfolgs“ in Europa wurden „Menschenzoos“ auch in den USA eröffnet.

Der bekannteste „Zoomensch“ ist Ota Benga. Ota Benga, was so viel bedeutet wie „Freund“, wurde zwischen 1881 und 1884 geboren. Er war Mitglied des Batwa-Volkes in Kongo und gehörte zum Stamm der Pygmäen. Die Stammesmitglieder der Pygmäen waren alle kleinwüchsig.

Ota Benga war verheiratet und hatte zwei Kinder. Eines Tages fand er seine gesamte Familie getötet im Haus. Sein Stamm war von Menschenjägern überfallen wollen. Die Force Publique Armee, eine offizielle Armee unter König Leopold II. von Belgien, hatte den gesamten Stamm ausgerottet. Frauen, Kinder, Männer, Senioren, alle wurden ermordet.

1904 kam der amerikanische Missionar Samuel Phillips Verner im Auftrage der Weltausstellung nach Afrika. Er kam mit einer Liste. Auf dieser Liste standen Rassen, Ethnien, Arten, Aussehen, die in der „Sammlung“ für den Menschenzoo noch fehlten. Er wollte diese Auffinden und im Zoo „ausstellen“. So fand Verner auch Ota Benga.

So wurde auch Ota Benga nicht getötet, sondern sofort „erbeutet“, weil er zur noch fehlenden Art im Zoo gehörte. Er hatte nicht einmal die Gelegenheit, seine Trauer über den Verlust der Familie und fast des gesamten Stammes auszuleben.

1904 wurde Ota Benga nach Amerika in den Zoo gebracht. Er wurde im Zoo auf die brutalste Art und Weise misshandelt. Auf Grund seiner scharfen und spitzen Zähne, die er in Kongo abgefeilt hatte, wurde er schnell zur „Hauptattraktion“.

Nach der Weltausstellung „durfte“ Ota Benga wieder nach Afrika zurück. Doch da seine gesamte Verwandtschaft ermordet wurde, entschied sich Benga wieder mit Verner in die USA zurückzukehren.

1906 brachte Verner Benga in den Menschenzoo in der Bronx, New York. Dort wurde er in einen Käfig mit einem Orang-Utan gesteckt. Es war ihm zwar am Anfang erlaubt, sich frei im Zoo zu bewegen, doch schon kurze Zeit später, verbrachte er seinen ganzen Tag im Käfig mit dem Affen. Am 08.09.1906 begann offiziell seine „Ausstellung“. Er wurde gezwungen mit dem Affen zu spielen und zu Lachen. Wenn er nicht lachte, wurde er gepeitscht. Um Ota Benga zu sehen zahlte man 25 Cent. Wenn man ihn lächelnd sehen wollte, dann kostete es 30 Cent. Daher sollte er ständig Lächeln.

Vor dem Käfig gab es auch „Infos“ zu Ota Benga: „Der afrikanische Pygmäe, Ota Benga. Alter 23 Jahre. Größe ca. 150 cm. Gewicht ca. 51 kg. Gebracht vom Fluss Kasai, Freistaat Kongo, Südliches Zentralafrika, von Dr. Samuel P. Verner. Ausstellung jeden Nachmittag im September.“

Bekannte Rassisten unterstützten die Ausstellung von Ota Benga und warben dafür. Doch die afroamerikanische baptistische Gemeinde machte Druck und protestierte dagegen. Die Ausstellung von Ota Benga wurde als rassistisch und unmenschlich deklariert.

Nach Druck von weiteren Kreisen durfte Ota Benga den Käfig verlassen. Er war jedoch weiterhin im Zoo. Als Attraktion sollte er im Zoo „herumlaufen“. Doch je mehr ihn die Besucher niedriger als Tiere behandelten, desto aggressiver wurde auch Ota Benga.

Gegen Ende September wurde Benga entlassen. Er kam in ein Waisenhaus. Danach schaffte er es sogar, eine Ausbildung in einer Tabakfirma zu beginnen. Hier wurde er von seinen Arbeitskollegen herabwürdigend „Bingo“ genannt. Benga erzählte seinen Kollegen seine Lebensgeschichte und erhielt hierfür Brot. Seine Ausbildung konnte er nie beenden.

Seine Schmerzen waren unheilbar. Seine Seele hatte sehr gelitten. Das Trauma war zu groß. Am 20.03.1916 begann Ota Benga in Lynchburg Selbstmord. Er machte einen kulturellen Tanz und schoss sich danach mit einer gestohlenen Pistole ins Herz. Sein Selbstmord ist auch der Selbstmord der damaligen Gesellschaft.

In seiner Todesurkunde wurde er mit dem Namen „Otto Bingo“ statt Ota Benga vermerkt. Ein Symbol für seine Kolonisierung, die seine Identität völlig ausbeutete, vom Menschen zum Tier, von Ota zu Otto, von Benga zu Bingo machte.

Nicht einmal ein richtiges Grab erhielt Ota Benga. Beerdigt wurde er in einem unmarkierten Grab.

Auch nach seinem Tode wird Benga weiterhin missbraucht. Im American Museum of Natural History in New York wird heute noch eine Maske des Gesichtes und ein Abdruck des Körpers von Ota Benga ausgestellt, jedoch nicht mit seinem Namen, sondern mit der Bezeichnung „Pygmäe“, als würde man eine „seltene Tierart“ ausstellen.

Cemil Sahinöz, Huffingtion Post, 23.11.2016

http://www.huffingtonpost.de/cemil-sahinaz/menschenzoos-geschichte_b_13144682.html

Islamische Zeitung, Dezember 2016

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(07.08.2016) Warum werden Jugendliche radikal?

Warum werden Jugendliche radikal?

 

Der Täter in München © Screenshot/Amateurvideo

Der Täter in München © Screenshot/Amateurvideo

Wenn die Welt eine menschliche Person wäre, dann bräuchte sie dringend eine Psychotherapie. Jeden Tag präsentieren uns die „Breaking News“ ein neues Attentat. Anschläge werden live übertragen. Wie in einem Kinosaal sitzt man vor dem Fernseher und spekuliert noch während der Tat – wer was wie dahinter steckt.

Nicht selten verfällt man dabei in Verallgemeinerungen. Immer sind es DIE X oder DIE Y, die schuld sind. Differenzierte Betrachtungen bekommen kaum noch Beachtung oder werden als Naivität oder Romantik abgestempelt. Popularisierte Aussagen dagegen, die genauso radikal sind wie die Taten und die Täter werden als Schablonenlösungen angeboten. Diese “Lösungen“ sind knapp, kurz und einfach. Die Schuldigen sind eine bestimmte Religion, eine bestimmte Ethnie oder eine bestimmte Nation. Je nach Tat ändert sich das.

So sind auch Flüchtlinge öfters im Visier der Polarisierer. Klar ist, dass durch die Flüchtlingsströme kein erhöhtes oder besonderes Terrorrisiko besteht. Flüchtling zu sein, ist kein Faktor, der zu einer erhöhten Radikalisierung führt. In keiner Studie wird ein erhöhtes Risiko nachgewiesen. Der Anteil der Radikalen unter den Flüchtlingen wird also nicht höher sein als der Anteil unter Nichtgeflüchteten.

Anstatt also Sündenböcke zu suchen, soll hier an dieser Stelle analysiert werden, welche Faktoren tatsächlich zur Radikalität und Extremismus führen.

Gleiche Muster, verschiedene Namen

Es gibt viele Faktoren, warum sich Menschen – vor allem Jugendliche – radikalisieren[1]. Egal ob rechter, linker oder religiöser Fanatismus, die Muster scheinen jedoch gleich zu sein. Die Forschungs- und Beratungsstelle Terrorismus / Extremismus (FTE) des Bundeskriminalamtes stellt fest, dass rechts-, links- und religiösextreme in ihrer Radikalisierung die gleichen Muster (z.B. kaputte und schwierige Familien, Trennungen, Todesfälle, Alkohol, Drogen, Gewalt, Belastungen in der Kindheit, Probleme in der Schule, keine abgeschlossene Ausbildung) aufzeigen und kommt daher zum Schluss: „In welchem Extremismus diese Personen […] landen, ist letztlich reiner Zufall. Überspitzt gesagt: Ein Islamist aus Dinslaken hätte in Sachsen genauso gut ein Rechtsradikaler oder in bestimmten Stadtteilen Berlins oder Hamburgs ein Linksradikaler werden können“[2]. Daher sind auch die Rattenfängermethoden dieser Gruppierungen identisch. Jugendliche werden mit offenen Armen empfangen. Die Muster sind gleich. Nur Namen, Begriffe und die Semantik ändern sich.

Suche nach Geborgenheit und Orientierung

Fast nie geht es um theologische Gründe. Laut einem Bericht kauften sich Radikale kurz vor ihrer Reise in den Krieg nach Syrien das Buch “Islam für Dummies“[3]. Das heißt, auch wenn es keine Konvertiten sind und vorher schon Muslime waren, sind es sozusagen “Neugeboren Muslime“, die ebenfalls “konvertieren“. Laut dem Verfassungsschutz gibt es in Deutschland 1100 gewaltbereite Personen aus dem religiösen Milieu. Zum Vergleich: Es gibt 7600 gewaltbereite Linksextreme und 10500 gewaltbereite Rechtsextreme.[4]

Stärker “anfällig“ für radikale Gruppen sind männliche Jugendliche zwischen 19 und 27 Jahren. Häufig sind es Jugendliche, die nach Orientierung und Sinn im Leben suchen, vorher geringe religiöse Bildung hatten und denen Perspektiven und Ziele fehlen. Auch Gefängnisinsassen sind stärker anfällig, da bei ihnen die gerade genannten Faktoren im hohen Maße zutreffen.

Diese Sinnsuche wird verknüpft mit der Sehnsucht nach Geborgenheit, Anerkennung, Vertrauen, Fürsorge und Liebe. Viele Jugendliche erhoffen sich durch den Anschluss an eine radikale Gruppe die viel ersehnte familiäre Wärme zu finden. Sie suchen in der Gruppe eine Geborgenheit. Diese waren ihnen in der eigenen Familie oder im Freundeskreis verwehrt. Sie erhalten plötzlich eine Wertschätzung und werden wichtig, alles was sie im “vorherigen Leben“ nicht bekamen. Daher fühlen sie sich wieder wertvoll und nützlich. Die Gruppe wird zu ihrer Ersatzfamilie.

Religion dient als Identitätsstifter

Auf Grund einer entfremdeten oder Konflikt-Biographie erhalten die Jugendlichen in der radikalen Gruppe eine selbststärkende Identität. Obwohl sie auch hier eine entfremdete Identität, ja fast eine Schizophrenie ausleben, vorspielen und inszenieren, wird dies durch die erfahrene Geborgenheit unterdrückt. Meist dient dann auch die Religion nur als Identitätsstifter. Das heißt, diese Personen handeln dann nicht aus tiefstem Inneren oder aus Überzeugung religiös, sondern, weil ihnen Religion eben diese Identität liefert. So bieten radikale Gruppen eine einfache und klare Antwort auf die Identitätssuche vieler Pubertierender an.

Dieser Identitätswandel erfolgt bei Jugendlichen sehr schnell. Der Jugendliche, der vorher sehr wenig Bezug zu seiner Religion hat, wird binnen weniger Wochen zu einem “Gelehrten“, bzw. er verhält sich so, als würden die übrigen Personen die Religion falsch ausleben und er und seine auserwählte Gruppe hätten die Religion richtig verstanden. Diese sehr schnelle Veränderung ist psychisch fatal für die Identität und zeugt auch eine Identitätssuche.

Auch bei einigen Konvertiten spielt die Identität eine Rolle. Sie suchen eine komplett neue Identität und wollen mit ihrem “früheren“ Leben nichts zu tun haben. Daher wollen sie eine Gesamtveränderung, auch äußerlich und namentlich (Selbst der Prophet Muhammed hat nur dann die Namen der Muslime ändern lassen, wenn sie eine negative Bedeutung hatten.) Diese komplett neue Identität erhalten sie in radikalen Gruppen. Hier werden sie nicht nur zu Muslimen, sondern ändern alles andere auch, wie z. B. Aussehen, Sprache, Kultur.

Die radikale Gruppe bietet zudem Sicherheit. Es gibt ein einfaches Weltbild, das aus Gut und Böse besteht. Alles scheint klar und ersichtlich zu sein. Die Regeln sind klar, die Wahrheiten einfach. Diese dichotome Weltsicht ist für viele Jugendliche ein wichtiger Anziehungspunkt, weil sie in der undurchsichtigen modernen Gesellschaft diese Gewissheit nicht haben. Daher bietet ihnen die Gruppe eine Komplexitätsreduzierung an.

Radikalisierung als Gegenreaktion

Bei Eintritt in diese Gruppen wird das Wir-Gefühl gestärkt. Hier finden die Jugendlichen gehör. Hier sind sie willkommen, werden nicht ausgestoßen. Sie gehören dazu. Sie sind wichtig, was noch einmal das Selbstwertgefühl steigert. Daher ist die Radikalisierung auch eine Gegenreaktion zur Ausgrenzung. Zudem ist der Mensch ein soziales Wesen, das sich in bestimmten Situationen einer Gruppe anpasst, auch wenn es den Werten der Gruppe nicht glaubt. Gruppenzwang, besonders bei Jugendlichen, spielt hier eine einflussreiche Größe. Hinzu kommen Jugendbedürfnisse, wie z. B. Protestbedürfnis, Abenteuerlust, Zugehörigkeit zu einer Clique. Radikale Gruppen stillen diese Bedürfnisse. Eigene Symbole wie Sprache, Musik oder Bekleidung machen die Gruppe zu etwas besonderem.

Das Gerechtigkeitsempfinden

Ein anderer Faktor, was bei Radikalen – egal ob Jugendlich oder nicht – eine immense Rolle spielt, ist das Gerechtigkeitsempfinden. Viele gehen davon aus – auch auf Grund der dichotomen Weltsicht – dass es nur Ungerechtigkeit in der Gesellschaft gibt. Sie wollen dann mit Hilfe ihrer Gruppe “die Welt retten“. Ihre Anschläge sollen die Gesellschaft “verbessern“. So fühlen sie sich wie “Helden“, ihr Selbstwertgefühl steigt. Das Paradoxe ist, dass sie die Gesellschaft durch ihre Anschläge zerstören. Dies wird dann damit legitimiert, dass einige geopfert werden müssen, damit es besser wird!

Viele Radikale geben an, dass sie sich vor ihrem Eintritt in die Gruppe ungerecht und diskriminierend behandelt fühlten. Negative Erlebnisse in Schule, Arbeit und Familie, Ausgrenzungserfahrungen, Diskriminierung verstärken dieses Gefühl. Wenn dieses Gefühl ein hohes Maß annimmt, verknüpft mit fehlender Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen, suchen sie nach alternativen Wegen, um diese zu erfüllen. Sie lehnen also die Ungerechtigkeit ab und suchen andere Gerechtigkeitsmodelle. Dies ist der größte Nährboden für Radikalisierungen jeglicher Art. Radikalisierung ist Verlockend für die, die sich sowieso ausgegrenzt fühlen. Eine Studie über den Radikalisierungsprozess bestätigt dies. Marc Sageman (Leaderless Jihad: Terror Networks in the Twenty-First Century. University of Pennsylvania Press: Philadelphia, 2008) interviewte 500 Gewalttäter aus Terrornetzwerken. Er kam zum Ergebnis, dass Faktoren wie Bildung oder theologisches Wissen keine Rolle spielen. Das einzige was zählt ist das Gerechtigkeitsbedürfnis.

Studie: „Radikale sind religiös ungebildet“

Das britische Inlandsgeheimdienst MI5 führte ebenfalls eine große Studie durch. Bestandteil der Fallstudie waren mehrere Hundert gewaltbereite Extremisten, die, von der Finanzierung bis zum Selbstmordattentat, an terroristischen Aktivitäten beteiligt waren. Das Ergebnis: Radikale sind weder psychisch verrückt noch wurden sie einer Gehirnwäsche unterzogen. Sie sind religiös eher ungebildet. MI5 schreibt, dass sie große Wissenslücken im Islam haben und daher eher religiöse Novizen sind. Wenn sie älter als 30 Jahre sind, sind sie verheiratet und haben Kinder. Sie sind weder arm und ungebildet noch gesellschaftlich privilegiert. Meistens sind es ehemalige oder aktive durchschnittliche Kriminelle. Drogendealer oder Diebe versuchen durch fanatischen “Glauben“ ihre Sünden wettzumachen. Vergewaltiger oder Schläger zieht die dem Terrorismus innewohnende Gewalt an. Laut der Studie verbreiten und verfestigen auch die Berichterstattungen einiger Massenmedien Vorurteile gegenüber Muslimen, welches dann wiederum zu Radikalisierungen führt. Aus der Studie geht ebenfalls hervor, dass das Internet ein wichtiges Hilfsmittel bei der Verbreitung der Ideologie ist, aber nicht die Hauptrolle bei der Radikalisierung spielt. Die Radikalisierung findet letztendlich statt, wenn man gleichgesinnte in der Umgebung hat. Es sind dann nicht die Imame oder der Moscheeverein, sondern bestimmte Rekrutierer, die letztendlich zur Radikalisierung führen. Gründe, die zur Radikalisierung führen, sind laut dieser Untersuchung gefühlte oder tatsächliche Ungerechtigkeiten, Diskriminierungserfahrungen und die Vorstellung, dass ein “Krieg gegen den Islam“ geführt wird. Allerdings werden solche Gründe meist im Nachhinein konstruiert, um das eigene Handeln zu rechtfertigen. Insgesamt wird die radikale Szene durch unterschiedliche Faktoren, wie z.B. Mitgliedschaft bei einer (selbsternannten) Elite, Kämpfer für eine (angeblich) gerechte Sache, Popstarstatus innerhalb der radikalisierten Gruppe, Heiratsvermittlung, klare Regeln und einfache Feindbilder und paradiesische Verlockungen schmackhaft gemacht[5].

Fazit: Die Faktoren zur Radikalisierung von Jugendlichen sind soziologischer und psychologischer Natur. Suche nach Sinn, Anerkennung, Geborgenheit, Vertrauen, Fürsorge, Sicherheit, Liebe, Wir-Gefühl, Klarheit, Einfachheit, Reduzierung der Komplexität, Gerechtigkeit und gefestigter Identität sind entscheidende Gründe, warum sich Jugendliche radikalisieren. Vor allem der Gerechtigkeitssinn und die Identitätssuche sind einflussreiche Faktoren.

[1] vgl. Şahinöz, Salafimus, Extremismus und Fanatismus verstehen und handeln, BOD Verlag, 2016

[2] Hart aber Fair: Terror im Namen Gottes – hat der Islam ein Gewaltproblem?, ARD, 11.04.2016

[3] Hasan M.: What the Jihadists Who Bought ‚Islam For Dummies‘ on Amazon Tell Us About Radicalisation. In: Huffington Post. 21.08.2014

[4] Tagesschau: Gewaltbereite Extremisten in Deutschland. 11.12.2015

[5] Die Welt: Warum ein Mensch zum Terroristen wird. 26.08.2008

 

 

 

Cemil Sahinöz, IslamIQ, 07.08.2016

Warum werden Jugendliche radikal?

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(21.07.2016) Putsch der Falschinformationen

Putsch der Falschinformationen

PUTSCH TUERKEI ERDOGAN DEMOKRATIE
An dieser Stelle würde ich wie öfters Malcolm X zitieren, lasse ich aber diesmal sein. An solchen Tagen wird mir immer deutlich, wie wahr seine Worte sind. Im Zeitalter der sozialen Medien wird es sogar noch deutlicher. Was ist passiert?

Es waren nicht einmal 48 Stunden nach dem missglückten Putschversuch in der Türkei vergangen, da hieß es in einigen sozialen Medien und Schlagzeilen „Was macht jetzt Erdogan? Wie wird er seine Macht ausnutzen? Alles eine Inszenierung Erdogans.“

Dabei hatte sich das türkische Volk erst einmal Solidarität und Verurteilung des Putsches erhofft. Denn in der Putschnacht gingen Millionen von Menschen in der Türkei auf die Straßen. Menschen aus allen Kulturen, Religionen, Ethnien und Anhänger aller Parteien waren auf den Straßen und verhinderten einen Putsch, der von einer Untergruppe innerhalb des Militärs (Mitglieder der Gülen Bewegung und Ultra-Kemalisten) ausging. Ich weiß nicht, ob es so etwas jemals in der Geschichte gegeben hat.

Viele können dies nicht nachvollziehen. Das türkische Volk hatte Jahrzehnte an den Folgen von Militärputschen gelitten. 27.05.1960, 12.03.1971, 12.09.1980 und zuletzt am 28.02.1997 wurde in der Türkei geputscht. Für viele kaum vorstellbar und bekannt. Am 27.04.2007 ging es ebenfalls in Richtung Putsch. Nun war aber Schluss. Niemand, aber auch wirklich niemand wollte einen Putsch. Bei dem Putsch 1980 wurden 650.000 Menschen verhaftet und Tausende hingerichtet. Das durfte nicht noch einmal geschehen. So gingen Millionen von Menschen auf die Straße und riskierten dabei ihr Leben und Leib für Demokratie und Freiheit. Einige starben dabei.

Leider wurde nicht ausführlich genug darüber berichtet, wie die Putschisten vorgingen. Nur um einiges zu nennen: Eins der Istanbuler Brücken sperrten die Putschisten und feuerten auf Zivilisten. Diese Zivilisten hatten keine Waffen, nichts womit sie sich schützen konnten. Sie gingen aber auf die Panzer los. Einige starben dabei. In Ankara gab es eine regelrechte Schlacht. Einige Kampfjets feuerten auf Zivilisten und schließlich auf das türkische Parlament. Unfassbare Bilder. Kaum auszuhalten. Dutzende Menschen starben. Der staatliche Fernsehsender TRT wurde Live gestürmt, die Moderatorin musste zitternd mit kreidebleichem Gesicht die Putschmeldung der Putschisten lesen. Die TV Sender Kanal D und CNN Türk wurden später ebenfalls von Soldaten mit Waffen gestürmt und es gab große Panik. Zivilisten stürmten die Gebäude der besagten drei TV-Sender und retteten die Geisel. Das Hotel, in dem sich der türkische Staatspräsident Erdogan befand, wurde bombardiert. All dies konnte man Live im Fernsehen beobachten. Es war kein Hollywood-Film. Verwandte und Freunde berichteten ebenfalls aus der Türkei. Man machte sich ernsthafte Sorgen. Die Türkei sollte wie in Ägypten geputscht werden oder wenigstens wie in Syrien im Chaos versinken.

Noch zur gleichen Zeit, nur wenige Stunden als der Putsch begann, berichtete eine hiesige Zeitung, Erdogan würde nach Deutschland fliehen und Asyl beantragen. Nein, das war keine Satire. Es war eine der seriösesten und bekanntesten Zeitungen. Obwohl kurz zuvor Erdogan Live im TV sagte, dass er sofort nach Istanbul fliegen und vor dem Volke treten wird, was er auch tat.

Dass Erdogan-Bashing hatte also sehr früh begonnen. Unverständlich. Man kann ja für oder gegen Erdogan sein, dass spielte für die Millionen Menschen in der Türkei aber keine Rolle. Es ging um eine terroristische Gruppe innerhalb des Militärs, die versuchte die Kontrolle des Landes zu übernehmen. Ja, diese Anschläge sind nichts anderes als terroristische Anschläge. So galten diese feigen und unmenschlichen Anschläge gegen die Freiheit und Demokratie des Volkes der Türkei. Das Volk, egal ob für oder gegen Erdogan, verteidigte sein Land und ja sie verteidigte damit auch den gewählten Staatspräsidenten Erdogan. Doch das spielte keine Rolle in diesem Moment, es ging um die Demokratie und Freiheit eines Landes. Sie verurteilten den Putsch.

Doch es ging plötzlich nicht mehr um den Putsch. Z.B. schrieb der Fox News Politikanalyst und ehemaliger Oberstleutnant Ralph Peters, dass der Putsch die einzige Chance war, den Islam (!) zu stoppen. Die Putschisten hätten in Wirklichkeit das Land retten wollen (!), kommentierte er den Putschversuch. Er erinnerte dabei auch an den Putsch von 1980. Zur Erinnerung, noch in der Nacht des Militärputsches von 1980 sagte der damalige US-Präsident Jimmy Carter: „Unsere Jungs haben es geschafft.“

Auch Tage später ging es mit Falschinformationen weiter. In den Sozialmedien tauchten Bilder von angeblich geköpften Soldaten auf. Dieser angeblich geköpfte gab später ein Interview im Fernsehen. Er lebte noch. Nichts war passiert. David Copperfield war hier nicht im Einsatz. Ein anderer, angeblich gelynchter Soldat sprach bei einer türkischen Presse davon, dass ein Bild von ihm von vor Jahren aus dem Internet gezogen und bearbeitet wurde. Er war an dem Tag nicht einmal unter den Putschisten, ja war nicht einmal ein Soldat, hatte seine Wehrdienstzeit schon längst beendet. Auf einem anderen Bild hieß es, eine Menschenmasse würde Soldaten foltern. Es stellte sich heraus, auch diese Soldaten wurden interviewt, dass die Menschenmasse die Soldaten in den Krankenwagen trug. Auch viele Bilder aus Syrien und Terroranschlägen auf türkische Soldaten in den Jahren 2006 und 2007 kursieren noch in den sozialen Netzwerken und werden als Türkei-Putsch-Bilder verkauft.

Die angeblichen enthüllenden WikiLeaks sind ebenfalls ein totaler Reinfall. Es sind fast ausschließlich Mails, die an die Info@ Adresse der AKP Adresse geschickt wurden. Dass heißt, es sind lauter Gruppenmails, Spam, Werbungen und Anfragen von Bürgern allerlei. U.a. ist z.B. auch eine Mailgruppe, die einen Aufsatz von mir an die Info-Adresse geschickt hat. Stellen Sie sich einmal vor, ihr Spamordner wird als „Enthüllung“ im Internet veröffentlicht? Was sagt das über Sie aus? Ja, nichts!

Die Verbreitung von Falschinformationen darf aber nicht verallgemeinernd auf bestimmte Presse zurückgeführt werden. Auch das ist fatal. Es sind z.B. nicht DIE deutschen Medien, DIE deutschen Journalisten, DIE amerikanischen Medien, DIE bestimmten türkischen Medien, DIE LÜGENPRESSE usw., die angeprangert werden können oder sollten. Es geht hierbei vielmehr um unseriöse und schlampige Arbeitsweise von bestimmten Personen – Journalisten sowie Nichtjournalisten, allen voran „Facebook“-Junkies. Meist sind es Personen, die sowieso einen Kampf der Kulturen herbei schwören, und bewusst Falschmeldungen produzieren und verbreiten. Diese vermeintlichen Islamexperten wurden in einer Nacht zu Türkeiexperten.

Auch auf Seiten der Putschgegner nehmen Falschinformationen in diesen Tagen wie ein Lauffeuer zu. Da werden z.B. in Deutschland Listen mit angeblichen Anhängern der Gülen Bewegung, denen vorgeworfen wird, den Putschversuch unternommen zu haben, versendet. Diese soll man vermeiden, ja sogar boykottieren und anzeigen. In vielen dieser Listen befinden sich Unternehmen, Einzelhändler, Menschen die im geringsten Nichts mit dieser Bewegung zu tun haben. Sie werden völlig zu Unrecht verurteilt und bloßgestellt.

Es kann nicht sein, dass aus Wut eine Legitimation für Bespitzelung, Gesinnungsschnüffelei oder sogar Gewalt entsteht. Wenn in einigen Moscheegemeinden steht „Hier dürfen Personen X nicht reinkommen“, dann ist diese Gemeinde alles andere als eine Moschee. Kollektive Stigmatisierungen sind ein Gift für das gesellschaftliche Zusammenleben.

Auf genau die gleiche Art und Weise werden im Moment Tausende von Menschen aus den verschiedensten Ministerien der Türkei entlassen, weil ihnen vorgeworfen wird, Gülen Anhänger zu sein. Es gibt jedoch hierzu keine Transparenz, keine bekannten Kriterien. Wer sagt, dass diese Menschen, der Gülen Bewegung angehören und/oder den Putsch mit verursacht haben? Hier bewegt man sich auf einem sehr dünnen Eis. Die Verurteilung von Putschisten muss auf dem Grundgesetz des Rechtsstaates erfolgen und nicht auf der Grundlage von Bespitzelung. Ja, Putschisten müssen verurteilt werden – auf die härteste Art und Weise, aber nein, Menschen können nicht nur auf Grund von Verdacht vom Dienst genommen oder verurteilt werden. Dies kann zu fatalen Folgen führen, wenn z.B. jeder jeden bespitzelt. Bei den oben genannten Listen ist das schon der Fall.

Auch die Forderung nach der Todesstrafe ist nicht realitätsbezogen. In der Türkei wurde diese 2001 abgeschafft und ist zu dem rückwirkend gar nicht möglich. Selbstverständlich sind die Menschen emotional geladen, wenn Teile des eigenen Militärs auf die Bevölkerung schießen, das heißt aber auch in diesem Fall nicht, dass man den Boden des Rechtsstaates verlassen darf.

Noch einige abschließende, kurze Worte zur Gülen Bewegung. Ausführliches hierzu findet sich in meinem Buch „Die Nurculuk Bewegung.“ Fethullah Gülen war in den 70´ern Teil der Nurculuk Bewegung. Trennte sich aber schnell von ihr und gründete seine eigene Bewegung, genannt die Gülen Bewegung. Weder Fethullah Gülen noch die Gülen Bewegung haben keinen Bezug zur Nurculuk Bewegung und sind auch kein Teil der Nurculuk Bewegung. Fethullah Gülen hatte von Anfang an das Ziel, den Staat zu unterwandern um ihn besser kontrollieren zu können. Dies führte dazu, dass in der Türkei ein Staat im Staat aufgebaut wurde, was konsequenterweise zu einem großen Konflikt führte. Daher ist die Gülen Bewegung nicht zu verharmlosen. Seine Anhänger gehen davon aus, dass Gülen der erwartete Mahdi ist und zeigen ihm daher kritiklos gehorsam. Sie sind bereit, alles für ihn zu tun. Die Aussagen der Putschisten belegen, dass es legitim ist, diese Bewegung zu verbieten. Auch in Deutschland stand die Gülen Bewegung vor einigen Jahren vor großer Kritik. Die Kritik ist jedoch vorerst auf Eis gelegt und wird mit Sicherheit in einigen Jahren wieder aufleben.

Angesichts dieser vielen Falschinformationen ist es umso wichtiger, dass für Einigkeit und Besonnenheit aufgerufen wird. Menschen mit Gewissen müssen dazu führen, dass in der Türkei nun die Menschen zusammenhalten und das Land auf Einigkeit aufgebaut wird. Das Volk, das einen Putsch verhindert hat, darf sich nun nicht gegenseitig bekämpfen.

In Deutschland müssen Brücken zwischen den Menschen wieder aufgebaut werden. Die sowieso politisch angespannten türkisch-deutschen Beziehungen dürfen sich nicht auf den Alltag der hierlebenden Menschen übertragen. Türken und Deutsche verbindet eine lange Tradition und Geschichte. Man kann immer verschiedener Meinungen sein, doch gegenseitige Beschuldigungen und Generalisierungen sind das letzte, was unsere Gesellschaft gebraucht.

Kriege und Gewalt in vielen Ländern der Welt machen mehr als deutlich, dass nur eine Politik der Herzen und der Liebe erfolgreich sein kann. Je mehr sich bestimmte Volksgruppen denunzieren, desto mehr vertieft man sich im Schlamm. Polarisierungen spalten. Rassismus und Hetze führt zu Elend. Gegenseitiges Verstehen und emotionales Verständnis sind wichtiger als je zuvor. Kein Kampf der Kulturen, sondern ein Freundschaft der Kulturen muss wieder verstärkt ins Blickfeld rücken.

Cemil Sahinöz, Huffington Post, 21.07.2016

http://www.huffingtonpost.de/cemil-sahinaz/putsch-der-falschinformat_b_11099094.html

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(06.07.2016) Deutsch-Türkische Beziehungen mit Blick auf die Armenien-Resolution

Deutsch-Türkische Beziehungen mit Blick auf die Armenien-Resolution

Die Deutsch-Türkischen Beziehungen gibt es nicht seit gestern. Seit dem 15. Jhr. werden sie intensiv gepflegt. Damals waren Türken und Deutsche zwar bittere Feinde, jedoch ist ja allgemein bekannt, was sich neckt, liebt sich.

Im 15. Jhr. gab es die sogenannten Türkenkriege. Im Zuge dieser gab es 1529 und 1683 große Schlachten in Wien. Als Resultat dieser Kriege gab es Kriegsgefangene, z.B. nach dem zweiten Krieg gab es 1245 Kriegsgefangene, die nach München gebracht wurden.

Nach dem Friedensvertrag mit dem Sultan (Friede von Karlowitz, 26.01.1699) blieben einige Kriegsgefangene weiterhin auf deutschem Gebiet und wurden auch hier begraben.

Diese Kriegsgefangenen versuchten sich in Deutschland einzuleben. Der Osmane Mehmet z.B., der 1685 bei einer Schlacht gefangengenommen wurde, änderte seinen Namen in Ludwig Maximilian Mehmet von Königstreu. Einer seiner beiden Söhne gehörte 1746 zu den Begründern der ersten Freimaurerloge in Hannover. Ein anderes Beispiel ist “der Türke Ali“, der in Hannover im frühen 18. Jahrhundert unter dem Namen Georg Wilhelm zum Infanterieoffizier und Oberst wurde.

Der Herzog von Kurland schenkte im Jahre 1731 seinem König Friedrich Wilhelm I. 20 “türkische“ Gardesoldaten. Ab diesem Zeitpunkt gab es rege Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Türken.

Friedrich der Große, der Sohn des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I.,  schrieb 1740: „Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, die sie ausüben, ehrliche Leute sind; und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land bevölkern, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen.“

Das preußische Berlin unterhielt gute Verbindungen zur “Hohen Pforte“ (Bab-ı Ali). 1761 wurde das erste deutsch-türkische Handelsabkommen (“Freundschafts- und Handelsvertrag“) abgeschlossen. Ab 1763 gab es ständige Osmanische Gesandte nach Preußen. 1763 wurde durch kaiserliche Anordnung eine Bestattungserlaubnis für diese Diplomaten erlassen. 1798 wurde Ali Aziz Efendi begraben, Friedrich der Große schenkte das Friedhofsgelände.

Während einer Reise durch das Osmanische Reich, schrieb Kaiser Wilhelm II. am 08.11.1898 in Damaskus eine Postkarte an den Sultan des Osmanischen Reiches Abdülhamid II: „Möge Seine Majestät der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, die, auf der Erde zerstreut lebend, in ihm ihren Kalifen verehren, dessen versichert sein, dass zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird.“

Im 20. Jhr. fand eine Modernisierung des türkischen Heeres statt. Mehrere Verträge wurden geschlossen, in deren Folge 50.000 deutsche Offiziere und Soldaten im Osmanischen Reich, im heutigen türkischen Gebiet, Dienst taten.

1912 lebten in Berlin ca. 1400 Türken. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhundertes entfaltete sich in Berlin ein lebhaftes und vielfältiges islamisches Leben.

1924 wurde der erste religiös-türkische Verband „Deutsch-Türkische Vereinigung“ gegründet. Sie förderte gezielt Studenten und Lehrlinge, in dem sie deren Aufenthalt in Deutschland und ihre Ausbildungskosten trug. Später wurde der Verband wegen finanzieller Schwierigkeiten aufgelöst.

Vor dem zweiten Weltkrieg kamen 13.800 Türken nach Deutschland, um hier zu studieren oder ihre Ausbildung als Ingenieure und Offiziere zu ergänzen. 215 deutsche Schüler gingen in die Türkei.

Die nächste Phase der Deutsch-Türkischen Beziehungen beginnt mit der Einwanderung von ausländischen Arbeitnehmern, den sogenannten “Gastarbeitern“. Hierzu wurde am 30.10.1961 ein Vertrag zwischen Deutschland und der Türkei abgeschlossen. 1973 wurde die Anwerbephase beendet, ab dann gab es Familienzusammenführungen.

Seit den 70´ern gibt es auch die bekannten großen Moscheeverbände, die sich in Deutschland etablierten. 1973 gründete sich der VIKZ, 1976 die IGMG und 1984 die DITIB. Seit der Gründung der DITIB werden Imame als Beamte des türkischen Staates für bestimmte Jahre nach Deutschland entsendet. Diese Imame bekommen jedoch nicht nur DITIB-Vereine, sondern auch andere Moscheevereine, die bestimmte Kriterien erfüllen.

Inzwischen leben Türken – wenn man mit den “Gastarbeitern“ anfängt zu zählen – in vierter Generation in Deutschland. Es sind über eine Million Menschen, die hier geboren sind, hier sozialisiert wurden, hier zur Schule gingen, hier ihren Wehr- oder Zivildienst gemacht haben. Es sind also deutsche Bürger mit türkischen Wurzeln. Auch kulturell sind sie schon längst mal deutsch, mal türkisch.

Man spricht von 3 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. Eine genaue Zahl wird es nicht geben, weil viele die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Es gibt aber Schätzungen. Ca. die Hälfte der türkischstämmigen hat einen türkischen Pass. Genauso viele haben demnach einen deutschen Pass. 15,6% der Personen mit einem Migrationshintergrund sind Türken. 22,2% der Menschen mit einem ausländischen Pass sind ebenfalls Türken. 98,8% der Türken sind Muslime. 63% der Muslime in Deutschland sind Türken.

Die Türken sind also schon längst gesellschaftlich, vor allem wirtschaftlich, ein wichtiger Teil Deutschlands.

Umso verärgerter sind sie auf Grund der kürzlich geschlossenen Armenien-Resolution des Bundestages. Viele fühlen sich vor allem verletzt und ungefragt. Viele türkische Verbände kritisieren, dass man ihre Meinung nicht eingeholt hätte, wo doch die Bundesregierung im Vorfeld verschiedene Ansprechpartner zum Thema herangezogen hätte. Daher fühlen sich viele hintergangen.
Vor allem wird jedoch kritisiert, dass Bundestagsabgeordnete keine Historiker sind. Sie seien nicht in der Lage eine Entscheidung über geschichtliche Ereignisse zu treffen. Eine Historikerkommission z.B., welches wissenschaftlich die Ereignisse ausarbeitet und entsprechend belegt, ist eine Forderung der türkischen Community seit Jahren. So gab es am Ende weder eine solche Kommission noch ein Schuldspruch eines Gerichtes, jedoch die Entscheidung von Politikern, welches noch mehr zur Verärgerung sorgte.

Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt ist, dass diese Resolution als Konsequenz nur auf Grund der aktuellen Politik gegenüber der türkischen Regierung beschlossen wurde. Dass heißt, es wird angenommen, dass die Armenier-Frage nur missbraucht wurde um Präsident Erdogan eins auszuwischen. Dadurch wird ein historisches Ereignis für die Tagespolitik geopfert.

Zudem bringt die Resolution auch international nichts. Sie verhilft nicht zur Aussöhnung zwischen Türken und Armenier, sondern ganz im Gegenteil, zu weiteren emotionalen Reaktionen, die eine Aussöhnung wieder um wahrscheinlich Jahrzehnte verschieben. Eine sachliche Diskussion zu den Ereignissen wird es so schnell nicht geben.

Auch Selbstkritik findet in der türkischen Community statt. Hier wird vor allem hervorgehoben, dass die türkischstämmigen Verbände keinen Zugang zur deutschen Politik haben und auch auf solche Entscheidungen völlig unüberlegt reagieren. Fastenbrechen einladen – ausladen – einladen – ausladen…. Die Gründe für das Ein- bzw. Ausladen ändern sich täglich. Auch die Absage der Fastenbrechen-Einladungen mit der Begründung von Sicherheitsbedenken, ist mit Vorsicht zu behandeln, da diese Info in bestimmten rechtsradikalen Gruppen gegen die muslimische Community genutzt wird. Denn damit stellt man ja sowohl die eigenen Verbandsmitglieder aber auch insgesamt die muslimische Community unter Verdacht, dass sie entweder radikalisierbar sind oder dass man sie nicht unter Kontrolle halten kann, wobei beides zum gleichen Ergebnis führt. Bedrohungen von Abgeordneten sind selbstverständlich in keinster Weise akzeptabel. Noch dekonstruktiver sind Forderungen eine eigene Partei zu gründen. Eine solche Aktion führt nur zu peinlichen Szenarien und endet letztendlich als eine Witzaktion. Sie stellt keine Basis für einen Dialog dar, sondern eher für eine Ausgrenzung.

Alles in einem sind die deutsch-türkischen Beziehungen also im Moment auf dünnem Eis. Vor allem was die Politik der beiden Länder angeht. Doch wenn wir auf die lange Vergangenheit und Tradition dieser Beziehungen zurückblicken heißt das eigentlich nicht viel.

Mit anderen Worten: Unter Freunden passiert das schon ´mal. Das führt aber nicht dazu, dass man komplett miteinander bricht oder die Freundschaft beendet. Die schlechten Beziehungen sind zunächst einmal auf der Ebene der Politik entstanden und nicht auf der Ebene der Gesellschaft. Nachbarn vor Ort, Sportkammeraden im Verein oder Schüler in gemeinsamen Klassen sind davon nicht betroffen und sollten dies auch nicht ausweiten. Vom Ende der deutsch-türkischen Freundschaft zu sprechen ist also völlig irrsinnig und irrational. Wie sagte es einmal der islamische Gelehrte Said Nursi, der selbst Sommer 1918 zwei Monate in Berlin blieb: „In jeder Phase der Geschichte waren Deutsche und Türken sehr enge Freunde.“ Und Otto von Bismarck sagte im Gespräch mit dem Journalisten Basiretci Ali Efendi im August 1871: „Die Liebe der Türken und Deutschen zueinander ist so alt, dass sie niemals zerbrechen wird.“

Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, Juli 2016

Zwischen emotionaler Distanz und Verantwortung

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(23.06.2016) Wer sollte nicht fasten?

Wer sollte nicht fasten?

Die Muslime sind gerade mitten im Fastenmonat Ramadan. Dieser begann am 6. Juni und endet am 4. Juli. Am 7. Juli gibt es dann das große Ramadanfest.

Der Ramadan ist immer ein großes Fest für die gesamte muslimische Community weltweit. Von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang wird dabei auf Essen, Trinken, Rauchen, Geschlechtsverkehr verzichtet. In fast allen Moscheen gibt es abends das gemeinsame Fastenbrechen, zu denen Muslime wie auch Nichtmuslime eingeladen sind. Im Moment sind in den Moscheen in Bielefeld und Umgebung abends mehr Menschen beim Fastenbrechen als die eigenen Gemeindemitglieder. So kommt man mit vielen neuen Menschen ins Gespräch.

 

Da der islamische Kalender sich nach dem Mondkalender richtet, und dieser nur 355 Tage im Jahr hat, verschiebt sich Ramadan in unserem Kalender immer um 10 Tage. Dadurch findet der Ramadan dieses Jahr in den längsten Tagen des Jahres statt.

 

In den letzten Tagen erreichten uns vereinzelt Fragen von Lehrerinnen und Lehrern, die über fastende Grundschulkinder berichten. Daher möchten wir an dieser Stelle kurz darstellen, welche Personen vom Fasten befreit sind.

 

In Sure 2, Vers 184 heißt es im Koran: „(Vorgeschrieben ist es euch) an bestimmten Tagen. Wer von euch jedoch krank ist oder sich auf einer Reise befindet, der soll eine (gleiche) Anzahl von anderen Tagen (fasten). Und denjenigen, die es zu leisten vermögen, ist als Ersatz die Speisung eines Armen auferlegt.“

 

In Sure 2, Vers 185 im Koran heißt es: „Wer also von euch während dieses Monats anwesend ist, der soll ihn fasten, wer jedoch krank ist oder sich auf einer Reise befindet, (der soll) eine (gleiche) Anzahl von anderen Tagen (fasten). Allah will für euch Erleichterung; Er will für euch nicht Erschwernis.“

 

Wer also gesundheitlich im Ramadan nicht fasten kann, der kann zu einem anderen Zeitpunkt das Fasten nachholen. Vom Fasten ausgenommen sind dann z.B. Kinder, Reisende, Frauen im Wochenbett oder während ihrer Menstruation, Kranke, Schwangere, Stillende. Und insgesamt beginnt das Fasten ab der Pubertät.

 

Wenn jemand chronisch krank ist, sprich zu keinem Zeitpunkt aus gesundheitlichen Gründen fasten kann, kann laut Sure 2 Vers 184 als Ersatz die Speisung eines Armen vornehmen.

 

Gesundheit und die Psyche eines Menschen haben im Islam absolute Priorität. Daher heißt es auch in Sure 2, Vers 185: „Allah will für euch Erleichterung; Er will für euch nicht Erschwernis.“ Selbst beim Schweinefleischverbot heißt es, „Und wer sich aus Hunger in einer Zwangslage befindet“, dann ist es euch erlaubt. Die Wahrscheinlichkeit, dass man in der Wüste ist und verhungert und Schweinefleisch findet, ist extrem klein. Die Botschaft Gottes ist hier also eindeutig. Das Leben geht vor. Und so ist das auch beim Fasten.

Daher können Personen, bei denen das Fasten schädlich sein kann, das Fasten zu einem späteren Zeitpunkt nachholen.

 

Hierzu eine Überlieferung des Propheten Muhammed: Der Prophet sieht eine Menschenmenge versammelt um eine Person, die gestürzt ist. Er fragt, was passiert ist. Es wird ihm geantwortet, dass der Mann auf Grund des Fastens ohnmächtig geworden ist. Daraufhin sagt der Prophet, dass in solchen Situationen es keine Tugend ist zu fasten.

 

Ob man nun gesundheitlich in der Lage ist zu fasten oder nicht, das entscheidet jeder selbst. Auch hierzu eine Überlieferung aus der Zeit des Propheten Muhammed: Während einer Reise gemeinsam mit dem Propheten haben einige seiner Gefährten gefastet und andere nicht. Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Der Prophet, der bei dieser Reise eben dabei war, hat beides gelten lassen. Und auch er selbst hat bei einigen Reisen gefastet und anderen nicht.

Man sollte es also auch dem Propheten vorbildlich nachmachen, in dem man Personen, die aus verschiedenen Gründen nicht fasten, nicht hinterfragen.

 

 

Cemil Şahinöz

Vorsitzender des Bündnis Islamischer Gemeinden

 

BIG (Bündnis Islamischer Gemeinden) ist der Dachverband der Moscheevereine und muslimischen Einrichtungen in Bielefeld.

http://www.big-bielefeld.de/?p=654

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(25.05.2016) Spiritualität des Islams kommt zu kurz

Spiritualität des Islams kommt zu kurz

Foto: SorinVidis | iStockphoto

Wenn man die Diskussionen in Deutschland rund um den Islam betrachtet, fällt sofort auf, dass man sich thematisch immer wieder in den gleichen „Rubriken“ befindet. Zu oft geht es dabei um politische Themen. Auch wenn sozialwissenschaftliche Themen auf der Agenda stehen, drehen sich die Diskussionen um alte bekannte Themen, wie Integration oder Migration. Selbst dann ist die Semantik eine politische.

Weiterhin fällt auf, dass muslimische Gemeinschaften eher auf Themen und Diskussionen reagieren, als eigene Diskurse in Gang zu setzen. Es kommt zu oft vor, dass „Etwas“ geschieht oder gesagt wird, woraufhin eine Gegenreaktion oder Gegendarstellung folgt. So sitzt man, um es in der politischen Sprache auszudrücken, immer auf dem Oppositionsstuhl.

Auch wenn viele dieser Themen wichtig sind, bleibt der Kern des Islams immer im Schatten. Letztendlich ist der Islam eine Religion und keine politische Ideologie. Daher ist es umso wichtiger, dass die Glaubenswahrheiten des Islams, seine Theologie und seine Spiritualität in den Vordergrund treten. Diese kommen eindeutig viel zu kurz. Ja seit Jahren hört man nichts mehr davon (mit Ausnahme des Ramadans). Ansonsten wird der Islam immer als eine politische Kraft in Erscheinung treten. Das macht den Islam aber nicht aus und es kann auch nicht im Sinne der Muslime sein.

Eine Selbstkritik muss an dieser Stelle den Vertretern der muslimischen Gemeinschaften zugemutet werden. Viele agieren wie Verwaltungskräfte oder Politiker, von denen es aber genug gibt. Es ist natürlich klar, dass man in Moscheevereinen Imame und Vorstandsvorsitzende unterscheidet. Letztere sind keine Gelehrten. Trotzdem heißt dies nicht, dass sie einer politische Funktion nachtrachten müssen und dass die Gelehrten in den Diskussionen gar nicht zur Sprache kommen sollen.

Der Autor und Journalist Eren Güvercin formuliert dieses Phänomen in einem Artikel präzise:„Funktionäre sind Politiker, das liegt in der Natur der Sache. Wir brauchen aber kein Politiksprech von muslimischen Verbandsfunktionären. Das bekommen wir von den politischen Parteien schon genug zu hören. Wir brauchen Akteure, die in der Lage sind, Positionen zu formulieren, die auf der islamischen Denktradition und Lehre basieren. Wir brauchen muslimische Gelehrte und Intellektuelle, die, aus dem Islam heraus argumentierend, zu aktuellen Fragen Stellung beziehen. Inhaltsleere Aussagen wie ‘Das hat nichts mit dem Islam zu tun’ oder das freiwillige Anlegen eines politisch korrekten Korsetts helfen nicht dabei, Ressentiments und Vorurteile zu mindern, sondern stärken sie erst recht. Vor einigen Monaten haben sich 126 muslimische Gelehrte aus der ganzen Welt durch einen offenen Brief klar gegen den IS positioniert. Es fällt auf, dass es in Deutschland keine muslimischen Gelehrten gibt, die auf diese Weise öffentlichkeitswirksam das Wort ergreifen. Aber die Öffentlichkeit und auch die muslimische Community in Deutschland wünschen sich solche Stimmen. Gibt es diese Gelehrten, und, wenn ja, warum kommen diese nie zu Wort? Es gibt sie. Aber ihre fehlende Sichtbarkeit hängt wohl damit zusammen, dass Funktionäre Politiker sind, die eine klare Haltung eines muslimischen Gelehrten als etwas Bedrohliches auffassen, da es ihr politisches und damit beliebiges Handeln erschwert. Diese Denker und Gelehrten sollen unsichtbar bleiben. Man hört oft, dass die muslimischen Verbände sogenannte Gelehrtenräte konsultieren. Gesehen oder gelesen hat man von ihnen bisher nichts.“

So nutzen viele Vertreter der Muslime auf der Bühne selbst eine politische Sprache. Im schlimmsten Fall wird dann auf politischer Ebene versucht, argumentativ religiöse Phänomene zu beschreiben. Dies kann selbstverständlich nicht gelingen und ist zum Scheitern verurteilt. Denn Religion und Politik sind unterschiedlich, ausdifferenzierte Systeme mit unterschiedlichen Regeln und Sprachen.

Zudem erhärtet sich diese Problematik durch sogenannte Berufsmuslime, die beruflich bedingt in die Rolle eines Islamexperten schlüpfen, jedoch gar keinen oder geringen Bezug im Privatleben zur immensen Spiritualität des Islams oder zur muslimischen Community haben. So hat das „Gesagte“ der Berufsmuslime in der sozialen Realität der Muslime keinen Bezug und findet auch keinen Anklang.

Kafka sagte einmal: „Ich übertreibe, damit man mich versteht.“ Um es daher einmal zu “übertreiben“ – jedoch für die oben genannte Kategorie des Berufsmuslims mit Wahrscheinlichkeit ohne jegliche Bedeutung: Der Berufsmuslim wird nicht für das – im Islam so wichtige – rituelle Gebet in einer vermeintlich wichtigen Sitzung eine Pause einlegen. Dieses für ihn „verschiebbare“ oder gar aufhebbare Gebet ist aber umso wichtiger für die Hunderttausenden Muslime, die er ja zu vertreten in Anspruch nimmt. Wie also für die Muslime sprechen, ohne den religiösen und spirituellen Charakter, was den Islam ausmacht, zu verinnerlichen?

Mitten im alltäglichen Gefecht der politischen Redewendungen und ständigen sozialen Umwälzungen ist auch die religiöseste Person davor nicht geschützt, ihre spirituelle Kraft durch die Verweltlichung zu verlieren. Manche nehmen diesen Verlust vielleicht auch bewusst in Kauf beziehungsweise tauschen sie aus gegen bestimmte Statusrollen. Doch genau diese Kraft ist notwendig, vor allem im Zeitalter der großen Krisen in der Gesellschaft.

Was fehlt sind also ganz klar die geistlichen und spirituellen Personen und Gelehrten in der muslimischen Community in Deutschland und sogar in ganz Europa. Personen, die durch einen theologischen und spirituellen Blickwinkel, das bisher nicht beachtet wurde, Richtungsweiser sein können. Menschen, die sich vom alltäglichen politischen Schlagabtausch abwenden und die Sprache des Herzens, des Gewissens und der Liebe sprechen lassen.

Diese Menschen haben die Kraft und das Wort zu einen, statt zu spalten. Ihre Worte kommen vom Herzen und finden Einklang in der Gesamtgesellschaft. Sowohl Individuen, die auf der Suche nach innerem Frieden sind, als auch eine Gesellschaft, die nach Lösungen für große Krisen sucht, können durch diese Stimmen erreicht werden. In der Geschichte gibt es hierfür reichlich Belege.

So muss auch die muslimische Community in Deutschland diese Stimmen, die es doch mit Sicherheit gibt, in den Diskussionen hörbar machen. Es müssen Mechanismen geschaffen und Methoden entwickeln werden, diese in Diskurse miteinzubeziehen.

 

Cemil Sahinöz, Islamische Zeitung, 25.05.2016

Spiritualität des Islams kommt zu kurz

 

Huffington Post, 26.05.2016

http://www.huffingtonpost.de/cemil-sahinaz/spiritualitat-des-islams-kommt-zu-kurz_b_10114464.html

 

Migazin, 07.06.2016

Mehr Spiritualität und weniger Politik bitte

 

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(05.05.2016) Der Islam und die AFD – Welches gehört zu Deutschland?

Der Islam und die AFD –  Welches gehört zu Deutschland?

 

 

In seiner Bremer Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 löste der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff mit dem Satz “Der Islam gehört zu Deutschland“ eine Debatte aus. Gehört der Islam zu Deutschland? Ist es ein Teil Deutschlands? Was macht die deutsche Leitkultur aus? Hierzu gab es viele unterschiedliche Meinungen, wie z.B. „Nicht der Islam, aber die Muslime gehören zu Deutschland.“ Kanzlerin Angela Merkel hat anlässlich des Ramadans 2015 gesagt: „Der Islam gehört unzweifelhaft zu Deutschland.“ Die AfD wiederum hat nun in ihrem Parteitag “beschlossen“, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört. Mal abgesehen davon, dass man so etwas nicht beschließen kann, sondern historische und kulturelle Fakten betrachten muss, versuchen wir der Frage nachzugehen, ob der Islam oder die AfD zu Deutschland gehören.

 

Was relativ unbekannt ist, dass der Islam nicht seit 50 Jahren, sondern seit 500 Jahren in Deutschland gelebt wird. Seit über 500 Jahren sind Muslime in dieser Gesellschaft und haben zu verschiedenen Zeitepochen die Gesellschaft mitgestaltet. Dabei kam nie die Frage auf, ob diese Menschen Teil dieser Gesellschaft sind. Dies war eine Selbstverständlichkeit. Der Islam war keine Religion der “Gäste“, sondern ein Glaube der Mitbürger.

 

Friedrich der Große schrieb 1740: „Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, die sie ausüben, ehrliche Leute sind; und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land bevölkern, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen.“ Während einer Reise durch das Osmanische Reich, schrieb Kaiser Wilhelm II. am 8.11.1898 in Damaskus eine Postkarte an den Sultan des Osmanischen Reiches Abdülhamid II: „Möge Seine Majestät der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, die, auf der Erde zerstreut lebend, in ihm ihren Kalifen verehren, dessen versichert sein, dass zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird.“

 

Gegenwärtig leben (inkl. der Geflüchteten) etwa 6 Millionen Muslime in Deutschland. Sie sind deutsche Muslime. Der größte Anteil ist hier geboren, hier zur Schule gegangen, arbeitet hier, ist hier sozialisiert wurden und wird auch hier begraben werden. Diese Menschen leisten einen immensen Beitrag für diese ihre Gesellschaft. Auch in den Moscheegemeinden gibt es großes ehrenamtliches Engagement von unschätzbarem Wert.
Der Islam und die Muslime in Deutschland blicken also auf ein halbes Jahrtausend des friedlichen Miteinanders zurück und sind schon längst deutsche Muslime.

 

Die AfD jedoch ist eine rassistische Scheinpartei, genauer gesagt eine faschistische Ideologie, mit Wurzeln von vor 100 Jahren. Historisch ist sie verwurzelt mit den Rassentheorien des 20. Jahrhunderts. Ihr einziges Engagement in dieser Gesellschaft ist die Verbreitung von Angst vor dem vermeintlichen Fremden. So spielt die AfD mit dem Angstgefühl der Menschen. Es werden Schreckensbilder und –szenarien erzeugt. Eine Distopie wird skizziert. Dies führt dazu, dass die Gesellschaft sich spaltet. Feindbilder entstehen und antiislamische Ressentiments werden verbreitet.

 

Da ständig neue Grenzen sowohl in der Praxis als auch in der Semantik und Rhetorik von der AfD gesprengt werden, kommt die berechtigte Frage auf, ob der Verfassungsschutz die AfD nicht beobachten sollte. Denn wohin die Überschreitung von solchen Grenzen führen kann, kann sich jeder selbst denken.

 

Dabei nützt es auch nichts, die AfD-Politik zu verharmlosen. Anhänger von AfD oder Pegida können sich nicht hinter dem Label “Besorgte Bürger“ verstecken. Die Berufung des “Besorgten Bürgers“ auf das Grundgesetz oder die Demokratie haben sich nur als reine Floskel herausgestellt. Das Parteiprogramm der AfD zeigt dies deutlich. Das Grundgesetz wird mit Füssen getreten.

 

Wenn in der Vergangenheit der Islam kritisiert wurde, wurden öfters radikale Gruppen als Anhaltspunkt genommen. Wie sehen aber, dass es rechtspopulistischen Gruppen längst nicht mehr nur um die Radikalen geht. Spätestens seit HoGeSa und Pediga wissen wir, dass dies bei rechtspopulistischen Gruppen nur ein Vorwand ist, um den Islam als Gesamtbild unter den Pranger zu stellen. Da fragt man sich natürlich, wo die selbsternannten Islam- und Islamismusexperten sind, die sich ja „Für den Islam“ aber „Gegen Radikale“ aussprechen, die also den Vorwand brachten, dass sie differenzieren. Wo sind nun diese “Islamexperten“? Was sagen diese Experten zur Verurteilung des Islams insgesamt als Religion und damit der Verunglimpfung der Muslime, die nicht extremistisch sind?

 

In diesem Sinne:

Der Islam gehört viel mehr zu Deutschland als die AfD. Sie spiegelt die soziale Realität viel mehr wieder und ist mit dem Grundgesetz und den abendländischen Werten vereinbarer als die AfD. Die AfD gehört definitiv nicht zu Deutschland. Die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft teilt ihre Meinungen nicht.

 

 

 

Cemil Şahinöz, Huffington Post, 05.05.2016

http://www.huffingtonpost.de/cemil-sahinaz/islam-afd-deutschland-zugehoeorigkeit_b_9845890.html

 

 

 

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(04.05.2016) Moscheekontrollen und Imame aus dem Ausland

Moscheekontrollen und Imame aus dem Ausland

 

 

Die Forderung, Moscheen zu kontrollieren und Imame aus dem Ausland zu verbieten ist nicht neu. Sie wird seit Jahren immer wieder gestellt, sie ist populistisch, bedient bestimmte Zielgruppen und geht an der sozialen Realität vorbei.

 

In Europa gibt es rund 3000 Moscheen. 2000 davon sind in Deutschland. Etwa 1000 Imame in Deutschland kommen aus der Türkei. Sie sind Beamte des türkischen Staates, werden also von der Republik Türkei bezahlt. Diese Imame waren wichtig für die sogenannten “Gastarbeiter“, damit eine authentische Religionsausübung in den Moscheen überhaupt möglich war. Ausgebildete Theologen hatte man nicht. So unterzeichneten die Türkei und Deutschland 1984 ein Abkommen, welches die Einreise von Imamen für eine bestimmte Aufenthaltsdauer erleichterte.
Bevor die Imame nach Deutschland kommen, besuchen sie in der Türkei einen “Integrationskurs“. Sie lernen den Alltag, die Kultur, die Geschichte Deutschlands kennen und erhalten auch einen ersten Crash-Kurs in deutscher Sprache. In Deutschland haben sie dann die Möglichkeit, ihr deutsch zu erweitern. Einige nehmen dies auch in Anspruch.

 

Diese Imame und die zehntausenden Ehrenamtlichen in den Moscheegemeinden leisten tagtäglich immense Arbeit und erhalten dafür kaum bis gar keine Wertschätzung. Ihr Engagement für die Gesellschaft ist weder bekannt noch sichtbar, obwohl sie von unschätzbarem Wert ist.

 

Um nur eins dieser wertvollen Engagements in den Vordergrund zu stellen: Imame in den Moscheen sind es vor allem, die Radikalisierungen entgegenwirken. Viele Studien belegen, dass die überwältigende Mehrheit der Extremisten und Radikalen vor der Radikalisierung nicht in diesen Moscheegemeinden war, ja sogar diese bewusst meidet. Mit anderen Worten, die, die in diesen Moscheegemeinden auftauchen, radikalisieren sich nicht. In Moscheegmeinden werden Jugendliche sogar immunisiert weil ausgerechnet die jetzt in der Kritik stehenden Imame einen authentischen, auf Koran und Hadith basierenden Islam vermitteln, während Radikale ihre Mitglieder mit islamfernen Utopien locken. Man sollte also diese Imame nicht unter Generalverdacht stellen, sondern mit ihnen im Kampf gegen die Radikalisierung kooperieren.

 

Mit Forderungen nach “Moscheekontrollen“ werden jedoch sowohl die Imame als auch die inzwischen (einschließlich Geflüchteten) sechs Millionen Muslime in Deutschland unter Generalverdacht gestellt. Laut dem Verfassungsschutz gibt es in Deutschland 1100 gewaltbereite muslimische Extremisten aus dem religiösen Milieu. Zum Vergleich: es gibt 7600 gewaltbereite Linksextreme und 10500 gewaltbereite Rechtsextreme. Religiöse Extremisten machen also 0,001% der Gesamtbevölkerung aus, 0,022% der muslimischen Bevölkerung und 5,73% aller Extremisten. Angesichts dieser Zahlen verbietet sich ein Generalverdacht von selbst. Es wäre fatal, auf Grund dieser 0,022% der Extremisten sechs Millionen Muslime unter Generalverdacht zu stellen, 2000 Moscheen kontrollieren zu wollen und 1000 Imame in die Türkei abzuschieben.

 

Hinzu kommt, dass diese Forderungen verfassungsfeindlich sind. Wie kann verlangt werden, alle Moscheen zu kontrollieren wo doch Religionsfreiheit gilt? In Niedersachsen gab es in der Vergangenheit Moscheekontrollen – Anlasslos und ohne jeglichen Verdacht! Die Muslime wurden nach den Freitagsgebeten von schwerbewaffneten Hundertmannschaften willkürlich kontrolliert und abgestempelt auf dem Handrücken. Die gesamte Moscheegemeinde wurde in der Nachbarschaft diskreditiert, Misstrauen wurde geschürt obwohl diese Kontrollen kein einziges Mal dazu geführt haben, einen potenziellen Extremisten zu fassen. Die Folgen waren fatal. Die Kontrollierten entwickeln ein Misstrauen gegenüber dem Rechtsstaat und fühlten sich ausgeschlossen. Erst nachdem mehrere Rechtsgutachten dieser Praxis Verfassungsfeindlichkeit bescheinigte, wurden sie eingestellt. Vor wenigen Wochen hat das Land auch die Rechtsgrundlage für die verdachtsunabhängigen Moscheekontrollen beseitigt.

 

Verfassungsfeindlich ist auch die Imam-Forderung. Viele Gotteshäuser – ob Kirchen oder Synagogen – holen Prediger aus dem Ausland. Sie werden aus dem Ausland finanziert und sie predigen in ausländischer Sprache – lateinisch, italienisch, hebräisch. Die Gemeinden können selbst entscheiden, wo sie ihre Prediger herholen und in welcher Sprache und Form sie predigen. Das ist Religionsfreiheit.

 

Dennoch haben auch viele Muslime den Wunsch, Imame in Deutschland auszubilden. Personen, die hier geboren sind, hier zu Schule gegangen sind, hier sozialisiert wurden und die deutsche Sprache sprechen. Aber die Realität sieht anders aus. Von heute auf morgen ist es nicht möglich, plötzlich 2000 Imame auszubilden und einzusetzen. Die muslimischen Dachverbände und Theologischen Fakultäten haben gerade erst damit begonnen. Und nicht alle Theologen werden zu Imamen. Da gibt es wieder Unterschiede. Da steckt man also noch in den Kinderschuhen.
Letztendlich wird am Ende auch die Frage aufkommen, wer die Imame mit deutschem Hochschulabschluss bezahlen soll. Die Moscheegemeinden werden die Mehrbelastung kaum stemmen können, zumal sich die Politik immer noch weigert, den islamischen Religionsgemeinschaften den Status des Körperschafts nicht zugestehen will. Höchstwahrscheinlich werden dann diejenigen, die heute sagen „Keine Imame aus dem Ausland“, dann sagen „Wir zahlen nicht. Holt Imame aus dem Ausland!“

 

Wie es nicht geht und dass das nicht klappt, zeigt uns auch das österreichische Modell, wo die ersten Imame in die Heimat zurückgeschickt werden. Doch woher sollen nun die Imame kommen? Öffnet man somit nicht die Türen für Radikale?

 

Es zeigt sich also, wie eingangs schon erwähnt, dass solche Forderungen sich nicht mit der sozialen Realität in Deutschland decken. Sie sind daher nur populistische Aussagen und gerade in Zeiten, wo es genug Spalter gibt, kontraproduktiv. Ihre Verfechter bedienen sich dabei die Methoden der Rechtspopulisten und die Rechtspopulisten bedienen sich dann wiederum dieser Forderungen. Stattdessen sollte man Chancen und Ressourcen der Moscheegemeinden erkennen und diese Produktiv in Problemlösungen einbinden.

 

 

Cemil Şahinöz, Migazin, 04.05.2016

Moscheekontrollen und Imame aus dem Ausland

Huffington Post, 11.05.2016
http://www.huffingtonpost.de/cemil-sahinaz/moschee-kontrolle_b_9886554.html

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(27.11.2015) Extremismus. Verstehen und Handeln

Extremismus. Verstehen und Handeln

 

 

Mit Fassungslosigkeit, Betroffenheit und Entsetzen reagiert die Weltgemeinschaft auf Terroranschläge. Egal ob in Paris, Ankara, Afghanistan, Irak oder Syrien… immer sind es unschuldige Menschen, die Barbaren zum Opfer fallen.

 

Solche tragischen globalen Ereignisse dürfen aber nicht dazu führen, dass stigmatisiert wird. Ausschreitungen sollten nicht nach Deutschland übertragen werden und dadurch hier ein Stellvertreterbürgerkrieg entstehen. Daher ist das Aufrufen zur Besonnenheit und verantwortungsvollem Handeln ganz wichtig. Das Thema Flüchtlinge oder gar den gesamten Islam auf der Grundlage solcher Ereignisse zu diskutieren, ist nicht nur kontraproduktiv, sondern führt zu weiteren Radikalisierungen, da radikale Gruppen sich genau die Jugendlichen ausgucken, die sich ohnehin schon ausgegrenzt fühlen.

 

Auch helfen voreilige Schlüsse nichts. Repressionen sind zwar wichtig, reichen aber oft nicht aus. Präventionsarbeit ist da viel wichtiger und effektiver. Radikalisierungstendenzen müssen also früh erkannt werden. Daher sollten Familien, Lehrer, Berater usw. sensibilisiert und Handlungskompetenzen vermittelt werden. Sozialarbeiter könnten Beratung für Angehörige anbieten. Mit dem Programm “Wegweiser“ sind hier schon weihen gestellt worden.

 

Trotzdessen geht das Thema alle etwas an. Religiöser Extremismus ist und bleibt eine Querschnittsaufgabe. Sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Jeder kann und muss seinen Einsatz dazu leisten.

 

Um aber etwas “leisten“ zu können, muss das Phänomen näher betrachtet werden. Es reicht nicht aus, die Schlagwörter der Radikalen zu kennen, um dagegen argumentieren zu können. Das Problem muss an der Wurzel erfasst werden.

 

Fakt ist: Salafismus, noch genauer, Wahhabismus, ist keine Ausprägung des traditionellen Islam. Den traditionellen oder sogenannten “konservativen“ Islam für die Entstehung des Salafismus verantwortlich zu machen, ist ein Zeichen der Unkenntnis. Der Islam ist ein Teil der Lösung und nicht ein Teil des Problems. Daher empfiehlt sich Kooperation statt Verdacht.

 

Der heutige Salafimus hat zwar seinen Ideen-Ursprung bei den Haricis aus dem 7. Jhr und bei Ibn Taymiyya im 13. Jhr., ist aber ganz klar eine ursprüngliche innerislamische Reformbewegung von Muhammad Ibn Abd al-Wahhab aus dem 18. Jhr. Muhammad Ibn Abd al-Wahhab entwarf eine eigene strikte und puristische Lehre des Islams. Laut ihm hätten sich die Muslime von den ursprünglichen Glaubensinhalten ihrer Religion so weit entfernt, dass sie kaum noch als Muslime zu bezeichnen wären. Daher forderte er eine umfassende Reform des religiösen Lebens und eine Rückkehr zum “ursprünglichen Islam“.

 

Diese Forderung endete jedoch fatal. Nicht dass man sich tatsächlich an den ersten drei Generationen des Islams orientierte, sondern ein buchstäbliches Verständnis des Korans entwickelte. Koranverse und Aussprüche des Propheten Muhammed wurden willkürlich ohne Kontext interpretiert und für die eigene Ideologie, Politik und Macht instrumentalisiert. Theologische Entwicklungen der letzten 14 Jahrhunderte wurden komplett ausgeblendet. Es entstand ein dualistisches Weltbild, das nur noch aus Gläubigen und Ungläubigen besteht. Dadurch entstand auch ein Exklusivanspruch und alle anderen, auch Muslime, wurden nicht als Muslime betrachtet. Sie nannten sich fortan „muwahhidun“ („diejenigen, die Gott zu „einem“ machen) und grenzen sich somit von den anderen Muslimen ab, denen sie vorwarfen, nicht mehr an den „Einen Gott“ zu glauben.

 

Die muslimische Community kann diesem nur entgegenbringen, wenn sie mehr als Einheit agiert. Es kann nicht sein, dass Radikale, die diesen religiösen Extremismus betreiben, und nur 0,01% der Muslime weltweit ausmachen, sich anmaßen, den Islam zu repräsentieren oder gar zu definieren. Diese Deutungshoheit muss ihnen konsequent entzogen werden. Sie darf ihnen aber auch nicht zugespielt werden, wie es die Rechtspopulisten tun.

 

Da Jugendliche anfälliger auf Radikalisierungen sind, muss die muslimischen Community desweiteren ihre Jugendarbeit verstärken. Sie sollte vielmehr als bisher auf die Bedürfnisse der Jugendlichen zugespitzt sein. Damit meine ich jedoch nicht die Jugendlichen, die sowieso schon in den Moscheen sind. Studien zeigen, dass sich Extremisten nicht in der Moschee vor Ort radikalisieren. IS-Sympathisanten kommen nicht aus Familien, die in den Moscheevereinen organisiert sind. Diese Familien und ihre Kinder haben einen stabilen Stand in der Religion. Radikalisierung findet meistens vor dem Bildschirm durch YouTube-Pseudo-Imame statt. Jugendliche, die wenig bis gar kein Bezug zum Islam haben landen schnell im Netz der Radikalen. Daher müssen Konzepte her, die diese Jugendlichen erreichen.

 

Man erreicht diese Jugendlichen z.B. nicht, in dem man salopp formuliert „Wir sind gegen die Koranverteilungen der Salafisten.“ Diese Argumentation wird nämlich von Salafisten im Umkehrschluss genutzt und gesagt, „Seht ihr, das sind keine Muslime, die sind gegen den Koran.“ Dies führt dazu, dass sich anfällige Jugendliche noch mehr distanzieren. Anstatt also oberflächlich zu sagen, dass man dagegen ist, sollte man argumentieren, warum man dagegen ist, und dass es nicht um die Verteilung des Korans geht, sondern um die Verbreitung einer Ideologie, die im Gegensatz zum Islam und Koran steht.

 

Faktoren zur Radikalisierung – egal ob rechts, links oder religiös, die Rattenfangmethoden sind gleich, nur die Begriffe ändern sich – von Jugendlichen sind soziologischer und psychologischer Natur und haben oft mit einer Konfliktbiographie zu tun. Daher muss den anfälligen Jugendlichen ein positiver Zugang zur Gesellschaft und Partizipation in allen gesellschaftlichen Bereichen möglich gemacht werden.

 

Ein zweiter Faktor ist, dass die Veränderung sehr schnell erfolgt. Der Jugendliche, der vorher sehr wenig Bezug zu seiner Religion hat, wird binnen weniger Wochen zu einem “Gelehrten“, bzw. er verhält sich so, als würden die übrigen Personen die Religion falsch ausleben und er und seine auserwählte Gruppe hätten die Religion richtig verstanden. Diese sehr schnelle Veränderung ist psychisch fatal für die Identität und zeugt auch eine Identitätssuche.

 

Die muslimische Community muss diesen Jugendlichen zentrale Werte des Islam vermitteln und so eine stabile Identität schaffen. An dieser Stelle wird auch die Bedeutung und Notwendigkeit eines Islamischen Religionsunterrichts in der Schule noch einmal deutlich. Nur diejenigen können tolerant zu anderen sein, die ihre religiöse Identität unzweifelhaft gewonnen haben und somit einen stabilen Rückhalt im Eigenen besitzen. Intoleranz und Gewalt übt oft derjenige aus, der eigene Zweifel nicht überwinden konnte und sie so fanatisch unterdrücken muss! (Alkonavi).

 

 

Cemil Sahinöz, Islamische Zeitung, 27.11.2015

http://www.islamische-zeitung.de/?id=19729

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(21.10.2015) Sind Zeitreisen und Zeitmaschinen möglich?

Im Film “Zurück in die Zukunft“ reisten Doc Brown und Marty McFly zum 21.10.2015, also zum heutigen Tag.

Nicht seit Kultfilme wie „Zurück in die Zukunft“ oder „Die Zeitmaschine“ wünscht sich der Mensch, in der Zeit hin und her reisen zu können. Sondern diese Wünsche haben zu etlichen Filmen gefüllt.

Manch einer wünscht sich dabei, seine Vergangenheit zu verändern oder zu schauen, wie seine Zukunft wird, und andere wiederum, an bedeutenden Ereignissen der Geschichte teilzunehmen.

So verlockend das Ganze sich anhört und es auch schön wäre, in einem DeLorean durch die Zeit zu reisen, kann es aus folgenden Gründen niemals zu Zeitreisen kommen.

Zeit als Moment

Die Zeit existiert im Hier und Jetzt. Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft existiert nicht. Weder materiell, noch immateriell. Die Zeit ist also eine Momentaufnahme. Es gibt keine Zeitachse, kein Zeitstrahl, an dem man vor- oder rückwärst reisen könnte.

Es kam noch nie jemand aus der Zukunft

Nehmen wir aber an, die Zeit wäre keine Momentaufnahme, sondern es gebe tatsächlich ein Zeitstrahl, so dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig existieren. In so einem Fall wäre es rein theoretisch möglich, in der Zeit zu reisen.

Doch in diesem Falle wäre es so, dass wir es von Anfang an wissen müssten, dass es irgendwann Zeitmaschinen geben würde. Denn man würde mit Gewissheit in die Vergangenheit reisen und die Menschen der “Vergangenheit“ würden dadurch erfahren, dass es in der “Zukunft“ Zeitmaschinen geben würde.

Als Beispiel: Nehmen wir an im Jahre 2100 werden Zeitmaschinen erfunden. Man reist dann damit ins Jahr 1. Damit würde man die Vergangenheit verändern. Jede kleine Veränderung in der Vergangenheit, verändert auch die Gegenwart und die Zukunft. Man würde also dann vom Jahr 1 an wissen, dass es im Jahre 2100 Zeitmaschinen geben wird. Doch noch nie kam jemand aus der Zukunft.

Und die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwann Zeitmaschinen erfunden werden und man damit mehrfach in die Vergangenheit reist und die Menschen der “Vergangenheit“ dies nicht mitkriegen und dadurch niemals erfahren, dass es in der Zukunft Zeitmaschinen geben wird, ist äußerst gering. Man würde wahrscheinlich so oft in die Vergangenheit reisen, so dass es irgendwann “bekannt“ werden würde, dass zeitreisen möglich sein werden. Auch die Idee, in die Vergangenheit zu reisen und das Bekanntwerden der Zeitmaschine zu verhindern, und vielleicht sogar mögliches Scheitern der Verhinderung noch einmal zu Verhindern, würde eine endlos Schleife verursachen :)

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(17.09.2015) Gemeinsam Hürden überwinden

Gemeinsam Hürden überwinden

(iz). Laut Statistischem Bundesamt leben 8,2 Millionen Ausländer in Deutschland. Dies ist der höchste Stand, der seit Beginn der Erfassung erreicht wurde.

Im Jahre 2014 wurden laut Flüchtlings-Hilfswerk UNHCR ca. 866.000 Asylanträge weltweit in den sogenannten reichen Staaten gestellt. Dies ist die höchste Zahl seit 22 Jahren. 2013 zählten die Behörden noch 597.000 Gesuche. Die Liste der „reichen Länder“ mit den meisten Anträgen führen Deutschland, USA und die Türkei an.   Durch die Zuwanderungen und die Flüchtlinge wird sich auch die Zahl muslimischer Migranten in Europa in den nächsten Jahren erheblich erhöhen. Derzeit leben in Deutschland ca. fünf Millionen Muslime – mit oder ohne deutschen Pass. Es sind deutsche Muslime, die sich hier beheimatet fühlen. Die hier leben, hier sozialisiert sind, hier ihren Alltag haben, hier bestattet werden und die ein wichtiges Teil dieses Landes sind; wie jeder andere auch, egal welcher Zugehörigkeit. Daher wünschen sich die Muslime, wie andere Religionsgemeinschaften auch, als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden und dass die juristischen Hürden überwunden werden.

Durch die Globalisierung gibt es vergleichbare Entwicklungen in vielen anderen Ländern der Welt. Wir leben alle unter dem gleichen Dach, miteinander, füreinander und dies führt nicht zu einem „Clash der Kulturen“. Ein solcher ist keine Option für uns. Es gibt keinen Grund nicht zusammenleben zu können.

Dieses Miteinander bringt viele Chancen, Möglichkeiten und Ressourcen mit sich. Sie ist aber auch an Herausforderungen geknüpft, die wir nur gemeinsam meistern können. Die aktuelle Flüchtlingsdebatte ist ein gutes Beispiel hierfür. Religion, Kultur, Sprache, Nation eines Flüchtlings spielen keine Rolle. Es sind Menschen, die geflüchtet sind und unsere Hilfe brauchen.

Jeder, der in der Flüchtlingshilfe tätig ist, wird dies bestätigen können. Da geht es zum Beispiel um einen 5-jährigen Flüchtling, der ihnen sagt „Mama hier, Papa dort“, um eine alleinerziehende Mutter, die flüchten musste, um einen Jugendlichen, der seine gesamte Familie zurücklassen musste oder um traumatisierte Väter.

Was spielt es da für eine Rolle, welche sogenannte Zugehörigkeit diese Menschen haben? Diese Menschen strecken alle ihre Hand aus. Und wir müssen sie an diesen Händen halten und ihnen zeigen, dass wir für sie da sind. Dies erfordert die jüdische Ahawta, die christliche Nächstenliebe, die muslimische Barmherzigkeit, die menschliche Moral und Ethik.

Wir müssen die Sprache der Liebe und die Sprache der Barmherzigkeit leben und wirken lassen, damit diesen Menschen in der Not geholfen werden kann. Hätten wir nicht zwei, sondern 100 Hände, müssten wir jeden einzelnen den Hilfsbedürftigen reichen. Für uns zählt nicht die Theorie „Der Stärkere überlebt“, sondern „die Hilfsbereiten überleben.“

Als die ersten so genannten Gastarbeiter nach Deutschland kamen, sagte Max Frisch einmal „wir riefen Maschinen und es kamen Menschen“. Heute müssten wir sagen: „Flüchtlinge sind Menschen“. Man kann sie nicht einfach nur als Flüchtlinge abstempeln. Es sind Menschen mit Hoffnungen, Ängsten, Wünschen und Träumen.

Cemil Sahinöz, Islamische Zeitung, 17.09.2015

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