Archiv der Kategorie: Deutsche Kolumne

(13.03.2023) Der Sinn des Kommens und Gehens

Jede Sekunde werden 4,3 Menschen geboren und 1,8 Menschen sterben. Die Welt ist ein ständiges Kommen und Gehen. Während sich vieles im Leben der Menschen verändert, die Gesellschaft wandelt, der Alltag umstrukturiert wird, ist das Kommen und Gehen das einzige, das seit Anbeginn der Menschheit seine Beständigkeit aufrechterhält.

Da sich diese Tatsache nicht verändert, befindet sich im Unterbewusstsein des Menschen eine Frage nach dem Sinn dieses Kommens und Gehens. Im frühkindlichen Alter stellt man sich diese Fragen zum ersten Mal, im Jugendalter ist man auf der Suche nach Antworten, im Erwachsenenalter werden diese Fragen jedoch wieder häufig ignoriert, verdrängt oder unterdrückt, bis sich dann im Seniorenalter, wenn das „Gehen“ wieder in die Lebenswirklichkeit des Individuums rückt, die Frage wieder allgegenwärtig wird.

Wenn wir die Welt betrachten, wie sie ist, sehen wir in allem eine komplexe Ordnung. Die Umdrehung der Planeten, das Wachsen der Pflanzenwelt, der Kreis des Lebens in der Tierwelt, der menschliche Körper und die Psyche. In all diesem sind Prozesse im Gang, die nicht das Produkt eines Zufalls sein können. Dafür sind sie viel zu präzise und viel zu komplex.


Da wo aber kein Zufall sein kann, kann nur eine Planung sein. Da wo eine Planung ist, muss ein Planer dahinterstecken, der die Planung mit all seinem Wissen geplant und durchführt. In der Schöpfung sehen wir eine präzise, geordnete Planung und Durchführung. Alle Wesen, seien es leblose Körper wie Planeten, Sonnen und Galaxien, oder perfekt funktionierende Lebewesen wie Bienen, deuten auf einen Planer hin.

So ist auch das Kommen und Gehen der Menschen nicht planlos oder das Produkt eines Zufalls. Es ist zielgerichtet und hat einen höchst erhabenen und ehrenvollen Sinn.

Der Mensch kommt kurzfristig auf die Erde, um die Gaben und Geschenke des Planers, wie z.B. die Gesundheit, den Körper, das Auge, den Mund, den Verstand, die Zeit, die Nahrung, das Leben wahrzunehmen, ihm hierfür zu danken und seine Gaben in der Form zu nutzen, wofür er sie ursprünglich geplant und zur Verfügung gestellt hat.

Damit der Mensch erlernt, wofür und wie er diese Gaben zweckgemäß nutzen kann, schickte der Planer Botschafter in Form von Propheten und Nachrichten in Form von Offenbarungen. Daraus kann der Mensch ableiten, wofür das Kommen und Gehen da ist und wofür die Gaben genutzt werden können.

Während alle anderen Wesen ihrer Bestimmung folgen und ihre Aufgaben auf die vollkommenste Art und Weise erledigen, ist es nur dem Menschen freigestellt, sich aus freien Stücken zu entscheiden. Der Mensch kann selbst darüber entscheiden, ob er die Gaben ihrem Zweck entsprechend nutzt oder eben nicht.

Der Sinn dieses Kommen und Gehens ist es daher, genau diese Entscheidung zu prüfen. Schafft es der Mensch, seine wahre Bestimmung zu erkennen? Kann er die ihm gegebenen Gaben sinnvoll verwenden und nicht zweckentfremdet? Wenn ihm dies gelingt, kann er die kurzfristigen Gaben, die sich zwischen dem Kommen und Gehen auf dieser Welt befinden, gegen ewige Gaben eintauschen.

Und? Wofür entscheidest du dich?


Dr. Cemil Sahinöz, Islamische Zeitung, 13.03.2023
https://islamische-zeitung.de/leben-kommen-und-gehen/

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(09.12.2022) Sadschda – Höchst mögliche Erniedrigung oder Stärkung durch Offenbarung der eigenen Schwäche?

Sadschda – Höchst mögliche Erniedrigung oder Stärkung durch Offenbarung der eigenen Schwäche?

Beim rituellen Gebet (salat) werfen sich Muslime nieder. Diese Niederwerfung (sudschud oder sadschda genannt) beinhaltet, dass Stirn, Nase, Hände, Knie und Zehen gleichzeitig den Boden berühren. In dieser Position sagt der Gläubige dreimal „Preis sei meinem Herrn, dem Allerhöchsten“ (Subhana rabbijal-ala).

Diese Niederwerfung könnte äußerlich betrachtet als eine Erniedrigung wahrgenommen werden. So sieht man öfters auf historischen Tafeln und Zeichnungen, die die entfernte Vergangenheit abbilden sollen, Sklaven oder Diener, die sich vor ihren Herrschern, z.B. vor den Pharaonen, verbeugen oder niederwerfen.

Auch später zum Islam konvertierte Menschen berichten manchmal, dass sie vor der ersten Sadscha gemischte Gefühle hatten. Vor allem Personen, die sich beruflich in höheren Positionen fühlen, mussten sich erst überwinden und das eigene Ego begießen, um sich niederzuwerfen. Nach der Niederwerfung berichten sie jedoch, dass sie eine große Erleichterung und einen großen inneren Frieden spürten.

Was also äußerlich vielleicht als Erniedrigung betrachtet werden könnte, führt zum genauen Gegenteil. Jedoch trifft dieses Gefühl nur dann zu, wenn die Niederwerfung vor dem Schöpfer stattfindet, und nicht vor einem Menschen.

Sich selbst ständig makellos und perfekt zu betrachten, ist erschöpfend. Wenn man jedoch seine eigene Schwäche akzeptiert, kann man daraus Kraft schöpfen. In dem Moment, in dem der Mensch seine Schwäche wahrnimmt und sich vor dem Schöpfer niederwirft, seine Stirn den Boden berührt, offenbart er seine Hilflosigkeit. Mit dieser Verbeugung und Offenbarung, erlebt er jedoch keine Erniedrigung, sondern einen Aufstieg. Er legt sich selbst damit in die Hände des Barmherzigen Gottes und erhält durch seine Allmacht Größe in der Schwäche.

Laut Überlieferungen des Propheten Muhammed, ist der Mensch in der Position der Niederwerfung dem Schöpfer am Nächsten. So heißt es in einem Hadith: „Der Diener ist seinem Herrn in der Niederwerfung (im Gebet) am nächsten, also verrichtet oft die Bittgebete, während ihr euch niederwerft!“ (Muslim, Salat, 215, 482; Abu Dawud, Salat, 152, 875).

Wie Babys, die durch ihre Schwäche die Barmherzigkeit ihrer Eltern magnetisch anziehen, zieht der Mensch, der seine Schwäche durch die Niederwerfung offenbart, die Barmherzigkeit Gottes auf sich. Gottes Gnade erhalten wir also, weil wir unendlich schwach und Er unendlich barmherzig ist.

Unsere unendliche Schwäche gilt aber nur in der Stillung unserer Bedürfnisse. Da ist der Mensch ein höchst schwaches Wesen. In Bezug auf seine Position innerhalb der Schöpfung, kann er jedoch als Stellvertreter Gottes auf Erden (khalifa) zur wichtigsten Frucht der Schöpfung erlangen, wenn er eben seine eigene Schwäche wahrnimmt und akzeptiert.

Dem Grad unserer Schwäche und Hilflosigkeit entsprechend, lässt Gott Seine Barmherzigkeit erscheinen, eilt uns zur Hilfe und wird somit für uns zur größten Hoffnung und zum stärksten Licht.

Gott, der uns sowieso näher ist als unsere eigene Schlagader (Koran, 50:16), ist uns also im Moment der Schwächeoffenbarung am nächsten. Im dem Er mit seiner Barmherzigkeit uns so nah ist, macht er den schwachen Menschen zu einem starken Menschen.

Dr. Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, Dezember 2022

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(08.11.2022) Risale-i Nur als Tafsir. Koranverse und Ahadith in den Werken von Said Nursi

Risale-i Nur als Tafsir

Koranverse und Ahadith in den Werken von Said Nursi

In der islamischen Theologie gab es schon immer die Tradition des Tafsirs. Tafsir ist die Kommentierung, Auslegung, Interpretation des Korans. Sie wird also verfasst, um den Koran oder bestimmte Koranverse besser zu verstehen.

So gab es in der islamischen Geschichte sehr viele Tafsirs. Der Grund für diese Vielfalt ist, dass jedes Tafsir den Koran aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und auch eine zeitgemäße Interpretation des Korans darstellt. Das heißt nicht, dass sich der Koran mit der Zeit verändert, sondern dass gesellschaftliche und technische Veränderungen einen neuen Zugang zum Koran zulassen, so dass man durch neue Erkenntnisse bestimmte Verse besser verstehen kann als z.B. vor 500 Jahren.

Verschiedene Arten von Tafsirs

Auch der Islamgelehrte Said Nursi verfasste ein Tafsir-Werk, namentlich Risale-i Nur. In seinem ca. 6000 seitigen Tafsir kommentierte Said Nursi jedoch nicht jeden einzelnen Koranvers, sondern beschränkte sich auf bestimmte Koranverse, allen voran Koranverse, die sich mit den Glaubenspfeilern (z.B. Existenz Gottes, Offenbarungen, Prophetentum, Jenseits) beschäftigten.

Diese Art von Tafsir ist nicht neu und gibt es auch nicht seit Said Nursi. Schon immer gab es zwei Arten von Tafsirs. Die eine Art interpretierte jeden Koranvers der Reihe nach und die zweite Art interpretierte nur bestimmte Koranverse. So kann z.B. auch eine längere Arbeit über ein einzelnes Koranvers als Tafsir bezeichnet werden (z.B. einzelne Werke von Ghazali oder Rabbani). Auch dies gibt es in der Gegenwart zu genüge.

Said Nursi geht in seinen Werken ebenfalls auf die unterschiedlichen Arten von Tafsir ein und erläutert, warum die Risale-i Nur auf die zweite Art geschrieben wurde: „Es gibt nämlich zwei Arten Korankommentare. Die erste ist die altbekannte Art Kommentare, wobei die Redewendungen im Koran und die Bedeutung seiner Worte und Sätze festgestellt, erklärt und erläutert werden. Was aber die zweite Art Kommentare betrifft, so stellt sie mit machtvollen Argumenten die Glaubenswahrheiten im Koran fest, erklärt und erläutert sie. Diese Art ist von sehr großer Bedeutung. Die allgemein bekannte Auslegung fasst manchmal diese Art kurz zusammen. Doch die Risale-i Nur betrachtet diese zweite Art als die unmittelbare Grundlage und ist eine spirituelle (auf der Wahrheit des Koran basierende) Auslegung, die auf beispiellose Weise (Leugner) zum Schweigen verurteilt“ (Nursi, k.A.a, S. 872; vgl. Nursi, 2000, S. 368). Laut Nursi geht die erste Art von Tafsir nicht tiefgründig auf die Glaubenswahrheiten ein, sondern betrachtet sie nur kurz oder oberflächlich. Dies würde auch den Rahmen dieser Tafsirs sprengen. Daher hat sich Said Nursi der Auslegung von Glaubenswahrheiten gewidmet, um sie einerseits zeitgemäß zu bestätigen und andererseits zu verteidigen.

Auch die Schüler von Said Nursi nehmen die Werke von Said Nursi auf diese Art und Weise wahr und argumentieren deshalb ähnlich: „Die Risale-i Nur ist ein wahrhaftiger Kommentar des allweisen Koran. Die einzelnen Ayat wurden nicht der Reihe nach kommentiert, vielmehr wurden jene Ayat ausgewählt, welche die Glaubenswahrheiten erklären und auf die Probleme der Zeit eine Antwort geben. Es gibt zweierlei Arten der Auslegung (Tafsir): zum ersten werden die einzelnen Wörter und Ausdrücke kommentiert; zum zweiten wird die Bedeutung und der Glaubensinhalt der Ayat erklärt und bewiesen“ (Nursi, k.A.b, S. 237). Sie sind der Meinung, dass die Risale-i Nur als Tafsir Antworten auf die Fragen der Gegenwart gibt.

An anderer Stelle stellen die Schüler Sadi Nursis noch einmal die Besonderheiten dieser Art des Tafsirs in den Fokus: „Es gibt zwei verschiedene Arten Kommentare (Tafsir). Die erste: die bekannte Art Tafsir: die Ausdrücke, Wörter und Sätze im Koran werden erklärt, erläutert oder bewiesen. Die zweite Art Tafsir aber ist die: die Glaubenswahrheiten im Koran werden mit unumstößlichen Beweisen erklärt, erläutert und bewiesen. Diese Art hat eine ganz besondere Bedeutung. Die oben angeführte bekannte erste Art Tafsir fügt nur manchmal ganz kurz eine Erklärung bei. Doch die Risale-i Nur hat sich die zweite Art von Grund auf zum Prinzip gemacht und ist so in beispielloser Weise ein geistlicher Tafsir, der selbst auch (Leugner) Schweigen bringt. Die Risale-i Nur ist ein Gesamtwerk, das in seiner Denkweise frei ist von persönlichen Betrachtungen, wodurch der Koran, der unser heiliges Buch ist, in jedem Jahrhundert Millionen Menschen seine Wahrheiten auf eine objektive und vernünftige Weise erklärt und so der Menschheit zum Nutzen dient. Die Risale-i Nur […] (ist) ein Beweis für die Wahrheiten des Glaubens und der Einheit Gottes, dem Verständnis einer jeden Volksschicht entsprechend angelegt, zieht auch die Naturwissenschaften mit in Betracht, […] spricht alle Menschen an, von den einfachen, ungebildeten bis zu den hochgebildeten und gelehrten, […] gibt auf die Bedürfnisse des Jahrhunderts eine vollständige Antwort, […] nicht eine wörtliche, sondern eine sinngemäße Auslegung des Ehrenwerten Koran“ (Nursi, k.A.b, S. 978ff). Auch hier betonen sie, dass die Risale-i Nur nicht nur Gelehrte, sondern jeden anspricht und die Erkenntnisse der Gegenwart betrachtet um neue Fragestellungen gegenüber den Koran bearbeiten zu können.

Wenn man nun die Risale-i Nur als Gesamtwerk betrachtet, dann sehen wir, dass Nursi zunächst mit der ersten traditionellen Art begonnen hat. In Seinem Werk “Der Koran – Ein Zeichen des Wunders“ (k.A.e) kommentiert er die Sura Fatiha und die ersten 33 Verse der Sura Bakara. Dabei kommentiert er nicht nur die Verse im Ganzen, sondern schaut auch pingelig genug, warum welches Wort, welcher Buchstabe, welches Satzzeichen genutzt wurde. Wenn man bedenkt, dass Nursi dieses sehr detaillierte Tafsir auf dem Schlachtfeld mitten im Ersten Weltkrieg schrieb, ist dies beeindruckend. Ursprünglich plante Nursi dieses Werk in 60 Bänden herauszugeben (vgl. Paksu, 1997). Sein Ziel war es u.a., jegliche Argumentationen gegen den Koran zu widerlegen.

Später beschäftigte sich Nursi nur noch mit bestimmten Versen, allen voran den Versen, die die Glaubenswahrheiten in den Fokus legen. Dies tat er, wie von ihm und seinen Schülern beschrieben, auf Grund der Notwendigkeit. Seiner Meinung nach war es in Zeiten des Materialismus wichtig, die Glaubenswahrheiten umfassend zu verstehen. Daher beschränkte er sich auf diese Verse und schrieb seine weiteren Werke in der zweiten Art der Tafsirs.

Ahadith in den Risale-i Nur Werken

In der Risale-i Nur werden jedoch nicht nur Koranverse, sondern auch Ahadith (Aussprüche des Propheten Muhammed) interpretiert oder verwendet, um Koranverse besser zu verstehen. Ahadith zählen nach dem Koran zu der wichtigsten Quelle des Islams und sind daher von großer Bedeutung.

Said Nursi betrachtet die Ahadith als Kommentare und Interpreten des Korans. Er sieht sie als einen zuverlässigen und wahrheitsgemäßen Kommentar des Korans (k.A.c, S. 288), die dem Menschen genügen (k.A.g, S. 19). Laut Nursi sind die Ahadith „eine Quelle des Lebens und die Inspiration der Wahrheit“ (k.A.g, S. 16; 2001, S. 458). Dies zeigt, welche Bedeutung er den Aussprüchen des Propheten Muhammed misst.

Said Nursi gibt die meisten Ahadith, die in seinen Werken vorkommen, in arabischer Sprache wieder (Göktaş, 2011). Wenn man nur die als Hadith gekennzeichneten Stellen, die wortwörtlich zitiert worden sind, zählt, befinden sich 135 verschiedene Ahadith in der Risale-i Nur. Davon sind nach der Klassifizierung der Hadithwissenschaften 48 sahih (authentisch; die höchste Stufe der Zuverlässigkeit einer Überliefererkette), 3 hasan (in sich selbst stimmig und zuverlässig), 35 schwach, 11 sehr schwach, 10 maudu´a (wahrscheinlich gefälscht) und bei 28 befinden sich keine Quellen (Can, 2014, S. 128). Diese Angaben können jedoch täuschen und geben nicht die Realität der Ahadith-Nutzungen Said Nursis wieder.

Sinngemäße Wiedergabe der Ahadith

Denn viele der Ahadith werden in der Risale-i Nur nicht wortwörtlich als Hadith wiedergegeben, sondern finden sich als islamische Grundlagen. Z.B. schreibt Said Nursi: „Denn, aller Mütter Liebe und Zärtlichkeit gleicht nur dem Aufleuchten eines Blitzstrahls der Allerbarmung“ (Nursi, k.A.c, S.53). Dies ist eine Ableitung aus dem Hadith: „Gott teilte die Barmherzigkeit in hundert Teile. Daraus sonderte er für sich neunundneunzig Stücke ab. Er schickte ein verbleibendes Teil auf die Erde. (Er teilte dies auch unter seinen Kreaturen auf – Dschinn, Menschen und Tiere). Dass sich die Geschöpfe barmherzig miteinander verhalten, liegt an dem Anteil dieses einzigen Teils“ (Buhari, Adab, 19, Rikak, 19; Muslim, 17, 2752; Tirmizi, Daavat, 107-108, 3535, 3536).

Solche Stellen, in denen also der Sinn eines Hadith wiedergegeben wird anstatt einer wortwörtlichen Wiedergabe, findet man in der Risale-i Nur zu Hunderten. Badıllı (2007) zählt hierzu 1078 Ahadith, die in den Werken von Said Nursi vorkommen.

Denn Nursi ist der Meinung, dass man sich zunächst anschauen muss, ob ein Hadith erfunden ist oder nicht. Falls ein Hadith nicht erfunden sein sollte, wäre zwar eine wortwörtliche Wiedergabe wichtig, jedoch wäre die Wiedergabe des Sinns wichtiger, um ein Hadith zu verstehen und richtig zu deuten (Bakkal, 2017, S. 55).

Die Wiedergabe des Sinns ist aber nicht nur eine Methode, die in der Risale-i Nur verwendet wird, sondern auch in gewöhnlichen Texten und Werken damals wie heute. Ja sogar während einer mündlichen Kommunikation geben Muslime öfters den Sinn und Inhalt eines Hadith wieder, ohne jedes Mal darauf hinzuweisen, dass dies ein Hadith des Propheten Muhammed ist.

In der Abhandlung über die Wunder des Propheten Muhammed, in der Nursi über 300 Wunder des Propheten aufgezählt, erklärt Nursi, warum in seinen Werken sinngemäße Überlieferungen der Ahadith sind: „In dieser Abhandlung habe ich viele Ehrwürdige Ahadith angeführt. Ich habe aber keine Hadith-Sammlung bei mir. Sollte im Wortlaut der von mir abgefassten Ahadith ein Fehler auftauchen, möge man sie, bitte, verbessern, oder aber, es soll heißen: ´Hadith dem Sinne nach´. Denn nach der vorherrschenden Meinung gilt: ´Es ist erlaubt ein Hadith sinngemäß zu zitieren.´ Das heißt: Man entnimmt dem Hadith den Sinn und kleidet ihn in eigene Worte. In diesem Fall möge man dort, wo der Wortlaut nicht stimmt, ihn als sinngemäßen Hadith betrachten“ (k.A.f, S. 154). Nursi betont hier, dass er keine Hadith-Sammlung bei sich hatte und daher die Ahadith wohlmöglich nicht wortwörtlich wieder geben konnte. Daher solle man diese Stellen als sinngemäße Überlieferung verstehen.

An anderer Stelle erklärt er, warum eine sinngemäße Überlieferung auch theologisch zulässig ist: „Berichte, die uns in Form einer allgemeinen Übereinstimmung überliefert worden sind, sind fest und zuverlässig. Es gibt zwei Arten solcher Überlieferungen. Die eine wird als ´eindeutige´ die andere als eine ´sinngemäße´ Überlieferung bezeichnet. Auch unter den sinngemäßen Überlieferungen gibt es zwei Arten. Die eine wird ´stillschweigende´ genannt, denn sie zeigt sich als eine, die stillschweigend akzeptiert wird. Zum Beispiel: In einer Gemeinschaft erzählt jemand ein Ereignis, das vor den Augen dieser Leute geschehen ist. Widersprechen die Leute seiner Erzählung nicht, nehmen diese mit Stillschweigen auf, so bedeutet dies so viel wie Zustimmung. Wenn nun auch noch diese Gemeinschaft von dem berichteten Ereignis selbst betroffen und zudem bereit ist, zu kritisieren, aber nicht dazu, Falschheit zu decken, vielmehr eine Lüge als besonders hässlich betrachtet, so ist ihr Stillschweigen sicherlich ein starker Beweis für das geschehene Ereignis. Zum Beispiel: Wenn über ein geschehenes Ereignis berichtet wird: ´Mit einem Pfund einer Mahlzeit wurden zweihundert Menschen gesättigt´, jedoch die Berichterstatter auf unterschiedlicher Weise berichten, der eine auf diese, der andere auf jene Art, der dritte wieder auf eine andere Art erzählt, sie alle aber über das gleiche geschehene Ereignis übereinstimmen, so ist also eine solche Erzählung zwar nicht klar umrissen, jedoch dem Inhalt nach stimmig und zuverlässig. Die Unterschiede in der Darstellung sind dabei nicht von Nachteil. Ja, es kommt sogar manchmal vor, dass eine Überlieferung zwar nur einen einzigen Garanten hat, jedoch unter gewissen Bedingungen die Kraft einer allgemeinen Überlieferung in sich trägt. Ja es kommt auch zuweilen vor, dass eine Überlieferung trotz dieses nur einen Garanten infolge noch anderer, zusätzlicher Dinge eine gleiche Zuverlässigkeit in sich trägt“ (Nursi, k.A.f, S. 164ff).

Zudem ist es laut Nursi nicht richtig zu sagen, dass der Sinn eines schwachen Hadith auch automatisch falsch ist (2000, S. 364; vgl. Demir, 2014, S. 111; Balbay, 2022). Hierbei ist er im Konsens mit den allgemeinen islamischen Hadithwissenschaften. Demnach wird ein Hadith dann als schwach bezeichnet, wenn der Hadith zwar gesichert, die Überlieferungskette jedoch schwach ist. Ein schwacher Hadith ist also kein erfundener Hadith, wie man vielleicht aus dem Wort “schwach“ verstehen könnte.

Warum Ahadith, die eine kurze Überlieferungskette haben, trotzdem wichtig sind, erklärt er folgendermaßen: „So besteht denn über die meisten Berichte, die sich auf die Wunder und die Beweise für das Prophetentum des Ehrwürdigen Gesandten, mit dem Friede und Segen sei, beziehen, eine entweder eindeutige oder sinngemäße oder stillschweigende Überlieferung. Ein Teil von ihnen ist jedoch ´Bericht nur eines Garanten´. Aber auch diesen muss man unter den gegebenen Umständen, nachdem er die Billigung durch das kritische Auge der Kenner der Ahadith erfahren hat, gleichfalls die Zuverlässigkeit einer allgemein anerkannten Überlieferung zusprechen. Es gab in der Tat unter den Kennern der Ahadith Forscherpersönlichkeiten, die man Hafidh nannte, die wenigstens hunderttausend Ahadith auswendig kannten, die fünfzig Jahre ihr Morgengebet mit der Waschung (Wudu) des Nachtgebets verrichteten, welche die Autoren der sechs Hadithsammlungen, angeführt von Bukhari und Muslim waren, Koryphäen der Wissenschaft auf dem Gebiete der Ahadith, Gelehrte, die solche Berichte nur eines Garanten verifiziert und akzeptiert haben, sodass diese in ihrer Zuverlässigkeit nicht hinter den als allgemein anerkannten Überlieferungen zurückbleiben. Denn sie haben sich in der Tat dermaßen auf die Ahadith des Ehrwürdigen Botschafters, mit dem Friede und Segen sei, spezialisiert, wurden so vertraut mit dessen Ausdrucksweise, seinem überragenden Stil und seiner Art, sich zu äußern, dass ihnen daraus die Fähigkeit erwuchs, sobald sie unter hundert Hadith ein ´hinzugefügtes´ entdeckten, zu sagen: ´Es ist hinzugefügt. Das kann kein Hadith sein, kein Wort des Propheten.´ So wiesen sie es zurück. Wie ein Juwelier kannten sie die Perlen der Überlieferung und verwechselten sie nicht mit gewöhnlichen Worten“ (Nursi, k.A.f, 165ff). Demnach wurden auch diese Ahadith von großen Hadithgelehrten auf ihre Authentizität überprüft und dann erst in die Hadithsammlungen übernommen.

Andere bekannte Gelehrte wie Ghazali, Rabbani und Abd al-Qadir al-Dschilani, haben in ihren Werken ebenfalls auf die sinngemäße Wiedergabe von Ahadith zurückgegriffen. Dies war vor allem dem Umstand der Übersetzungen geschuldet, da man nicht wie heute immer die Möglichkeit hatte, an die Urquellen zu kommen. Daher findet man in den Tafsirs viele Ahadith, die man zwar nicht wortwörtlich so in den Urquellen findet, jedoch aber sinngemäß.

Ahmad ibn Hanbal sagte hierzu, dass sie (die islamischen Gelehrten) bei den Ahadith in Bezug auf die Regeln ihre Hände festhalten und fest weben. Wenn es aber um die Tugenden der Taten geht, lassen sie die Finger etwas locker. So verwenden sie auch schwache Ahadith (vgl. Özmen, 2017). Dass heißt, in Bezug auf die Grundprinzipien des Islams, haben die Islamgelehrten pingelig genau Haarspalterei betrieben. Wenn es aber um Tugenden der Taten ging, waren sie recht flexibel. Interessanterweise gilt Ahmad ibn Hanbal als einer der strengsten handelnden in den islamischen Rechtswissenschaften (Fiqh), hier räumt er jedoch eine Flexibilität ein.

Auch war es früher nicht üblich, Quellen in Texten anzugeben. Dies hat sich erst ab dem 20. Jahrhundert etabliert. Zuvor war es so, dass man nicht immer Zugang zu allen Quellen hatte. Und auch wenn die Quellen vorhanden waren, war es nicht üblich, sie wie heutzutage präzise genau anzugeben. In Bezug auf islamische Texte wurde dann zwar geschrieben, dass ein bestimmtes Zitat vom Propheten Muhammed stammt, jedoch ohne Angabe der Quelle. Dies findet man z.B. auch bei Ghazali. Erst jetzt in der Gegenwart werden diesen Werken, so auch bei den Werken von Ghazali und Said Nursi, die Quellen nachträglich hinzugefügt.

Obwohl Nursi die Quellen der von ihm überlieferten Ahadith nicht erwähnt, kann man an Hand anderer Aussagen von ihm sagen, dass er die Ahadith, die in den Büchern der berühmten Hadithgelehrten, insbesondere Bukhari, sowie der Kutub-i Sitte-Autoren überliefert werden, als authentisch akzeptiert (vgl. Bilen, 2019, 2020).

Betonung der Wichtigkeit der Sunna und der Hadith in den Werken von Said Nursi

Said Nursi selbst betonte ebenfalls die Bedeutung der Sunna und der Ahadith. So schreibt er in einer Abhandlung über die Sunna und über den Schaden, der durch Erneuerungen (Bid´a) zu Stande kommt Folgendes: „In der Tat ist die Befolgung der Gelobten Sunna mit Sicherheit sehr wertvoll. Besonders in einer Zeit, wo die ketzerischen Erneuerungen (Bid´a) auf dem Vormarsch sind, ist es ganz besonders wertvoll, dennoch an der Gelobten Sitte (des Propheten) festzuhalten.  […] So ganz unmittelbar der Sunna zu folgen, ruft den Ehrenwerten Gesandten, mit dem Friede und Segen sei, in Erinnerung und diese Erinnerung wird zu einem Erlebnis, welches sich dann umwandelt in ein Erleben der göttlichen Gegenwart. Sogar die geringfügigste Handlung, ja selbst Gewohnheiten wie Essen, Trinken oder Schlafen, diese gewöhnlichen Tätigkeiten, diese rein natürlichen Handlungen werden, sobald man dabei die Gelobte Sitte beachtet, so verdienstvoll wie ein Gebet und entsprechen dem islamischen Gesetz” (Nursi, k.A.d, S. 96).

Nursi betonte also die Bedeutung der Sunna im Alltag. Die Sunna macht eine gewöhnliche Handlung zu einem Gottesdienst. Jemand, der der Sunna des Propheten so viel Beachtung schenkt, kann natürlich die Ahadith nicht ausblenden. Dies wäre ein großer Widerspruch.

Verteidigung der Ahadith

In vielen Abschnitten der Risale-i Nur geht Said Nursi auf die Bedeutung der Ahadith ein. Dabei nimmt er öfters die Verteidigungsposition ein, wenn Ahadith geleugnet werden (vgl Nursi, k.A.c, S. 593ff). So ist Said Nursi der Meinung, dass, wenn eine Person einen Hadith falsch auslegt oder fehlerhaft praktiziert, man nicht den Hadith leugnen, sondern vielmehr die Person zurechtweisen und so die Ehre des Hadith bewahren sollte (Nursi, 2011, S. 44).

Wenn Ahadith geleugnet werden, führt dies Said Nursi darauf zurück, dass ihr Sinn nicht verstanden wurde: „Da die ehrwürdigen Überlieferungen […] nicht genau verstanden werden, halten ein Teil der Rationalisten sie für schwach (d.h. nicht nachweisbar) oder für widerlegt. Ein Teil von ihnen, dessen Glaube schwach und dessen Ego stark ist, ist bis zur Leugnung gegangen“ (Nursi, k.A.c, S. 593ff).


Daher ist es die Vorgehensweise Nursis, einen Hadith nicht zu leugnen, sondern erst sich selbst zu hinterfragen, ob man z.B. den Hadith auch wirklich richtig verstanden hat. Nursi lädt daher ein, den Kontext eines Hadith zu untersuchen: „Und versuche dann nicht, indem du dir eine Aussage, die du als der Wahrheit widersprechend und mit Sicherheit den Gegebenheiten entgegengesetzt betrachtest, zum Vorwand machst, den Finger der Kritik gegen die Aussagen des Propheten und infolge dessen gegen den Rang der Fehlerlosigkeit des ehrenwerten Gesandten zu erheben! (Sehe dich von einer Verleugnung ab. Ein Fehler) kann nicht auf Seiten der Hadith liegen. Und ist der Fehler gar nicht wirklich (ein Fehler), so ist er auf einen Mangel an Verständnis deinerseits zurückzuführen. […] Wenn du recht und billig denken kannst, solltest du nun nicht mehr aufstehen, um den Ahadith des Propheten, die dein Verstand als der Wahrheit zuwiderlaufend betrachtet, zu widersprechen! Sage: ´Entweder gibt es dazu einen Kommentar oder eine Auslegung, oder sie haben (ganz offensichtlich) einen Sinn´!“ (Nursi, k.A.c, S. 610).


Vor allem bei Ahadith, die von vielen überliefert wurden, hebt Nursi die Glaubwürdigkeit sowohl dieser Ahadith als auch allgemein der Gefährten des Propheten hervor, die diese Ahadith überlieferten: „Von den folgenden Beispielen der Wunder (des Propheten) an Fülle und Segen ist jedes (als Hadith) auf verschiedenen Wegen, ja das eine oder andere sogar auf sechzehn verschiedenen Wegen überliefert worden. Die meisten von ihnen haben sich mitten in einer Gemeinschaft vieler Menschen ereignet. Sie wurden von ehrlichen und angesehenen Menschen einer solchen Gemeinschaft berichtet und überliefert. Zum Beispiel berichtet da einer von ihnen: ´Es haben siebzig Mann von vier handvoll eines Gerichtes gegessen, das man Sa‘ nennt und sind satt geworden.´ Diese siebzig Mann hören seine Worte und leugnen es nicht, d.h. sie bestätigen ihn durch ihr Schweigen. In der Tat hätten die Sahabis, diese geradlinigen, zuverlässigen und wahrheitsliebenden Menschen, in jener Zeit der Wahrhaftigkeit und Geradlinigkeit, jede Spur einer Unwahrhaftigkeit als solche bemerkt, zurückgewiesen und als Lüge erklärt. Die Ereignisse, von denen wir hier berichten wollen, sind jedoch von vielen überliefert worden, während andere sie durch ihr Schweigen bestätigten. Das heißt also, dass ein jedes dieser Ereignisse so sicher ist wie eine in ihrer Bedeutung allgemeine Überlieferung“ (k.A.f., S. 199ff).

An anderer Stelle betont er dies noch einmal: „Es ist ja bekannt, dass sieben, acht Schnüre miteinander verflochten ein starkes Seil bilden. Dementsprechend sind solche Baum-Wunder, die von diesen so berühmten unter den getreuen Sahabis durch so verschiedenen Quellen überliefert worden sind, ebenso beweiskräftig wie eine sinngemäße, oder sogar eine tatsächliche allgemeine Übereinstimmung. Sie erhalten in der Tat die Form einer allgemeinen Überlieferung, wenn sie von den Sahabis in die Hände der Tabiine übergehen. Besonders die Zuverlässigen Bücher, wie Bukhari, Muslim, Ibn Hibban und Tirmidhi bildeten und bewahrten eine Kette, die bis in die Zeit der Sahabis zurückreicht, so zuverlässig, dass in ihnen, z.B. in Bukhari einen Bericht zu finden, gleichbedeutend ist, ihn direkt von den Sahabis zu hören“ (k.A.f., S. 230ff). Laut Nursi sind die Gefährten des Propheten Muhammed und die großen bekannten Hadithsammler zuverlässige Menschen, die bei den Ahadith strikte Kriterien aufstellten und diese einhielten.

Die Ahadith und die Glaubwürdigkeit der Hadithwerke verteidigte er auch vor Gericht während seiner Verbannungen: „Eine Auslegung zu geben, bedeutet, dass der der Hadith unterlegte Sinn beabsichtigt, möglich oder wahrscheinlich sein kann. Nach den Regeln der Logik ist es nur möglich, eine Bedeutung auszuschließen, wenn man ihre Unmöglichkeit beweisen kann. Doch gerade so wie seine Bedeutung unseren Augen erkennbar geworden ist und sich als wahr herausgestellt hat, so hat sich auch ganz offensichtlich auf der Hinweisebene den Augen unseres Jahrhunderts ein Aspekt der Universalität dieser Hadith wie ein wundersamer Blitz als Kunde aus dem Unsichtbaren gezeigt und kann deshalb in gar keiner Weise abgestritten oder zurückgewiesen werden. Der Liste entsprechend wurde gleichfalls bewiesen, dass die Behauptung des Staatsanwalts, alle Überlieferungen seien entweder hinzugefügt oder schwach, auf dreifache Weise falsch ist. Erstens: Imam Ahmed Ibn Hanbal, der eine Million Ahadith auswendig wusste und Imam Bukhari, der fünfhunderttausend Ahadith auswendig kannte, haben (eine solche Behauptung) nie gewagt. Doch obwohl sich ihre Widerlegung nicht beweisen lässt, (der Staatsanwalt) auch gar nicht die Bücher aller Ahadith gesehen hat, hat doch der überwiegende Teil der Umma in jedem Jahrhundert erwartet, dass die Bedeutungen der Überlieferungen in Erscheinung treten oder ein einzelner Aspekt von ihnen sichtbar werden möge und so hat sich die Umma (diesen Überlieferungen bis zum Standpunkt) einer allgemeinen Akzeptanz angenähert. Eine Reihe von Aspekten und Beispielen, welche vollkommen richtig sind, sind in Erscheinung getreten und sichtbar geworden. Diese Überlieferungen zur Gänze zu leugnen, ist daher in zehnfacher Hinsicht ein Fehler. Zweiter Aspekt: Mit der Bezeichnung ´hinzugefügt´ soll gesagt sein, dass eine Überlieferung im Gegensatz zu einem Hadith nicht urkundlich überliefert ist. Damit soll nicht gesagt sein, dass sie auch inhaltlich falsch ist. Da nun einmal die Umma und die Kenner der Wahrheit und die, welche ihnen die Wahrheit enthüllt haben, ein Teil der Schüler der Ahadith und ihre großen Exegeten, (auch diese Überlieferungen) anerkannt hat und nun darauf wartet, dass sich ereignen wird, was sie beinhalten, so enthalten diese Überlieferungen mit Sicherheit Wahrheiten, die Sprichwörtern gleich, jedermann etwas angehen“ (Nursi, k.A.a. S. 714ff).

Fazit

In der islamischen Geschichte gab es schon immer zwei Arten von Tafsirs. In der ersten Art wurde jeder Koranvers der Reihe nach kommentiert und interpretiert. In der zweiten Art wurden nur bestimmte Koranverse interpretiert.

Said Nursi schrieb zunächst ein Werk, basierend auf der ersten Art der Tafsirs. Danach widmete er sich jedoch auf Grund des Bedarfs nur den Glaubenswahrheiten und kommentierte Verse, die sich mit diesen Themen beschäftigten.

Bei der Verwendung der Ahadith sehen wir bei Nursi wenig wortwörtliche (135), jedoch viele sinngemäße (1078) Wiedergabe der Aussprüche des Propheten Muhammed.

Zudem verteidigt Nursi in seinen Werken die Traditionen des Propheten Muhammed, seine Aussprüche und die Gelehrten und ihre Hadithsammlungen.

Abschließend kann daher gesagt werden, dass sich Said Nursi intensiv mit Koranversen und Ahadith beschäftigte und bestrebt darin war, diese zeitgemäß zu interpretieren.

Literatur:

  • Badıllı A.: Risale-i Nur’un Kudsi Kaynakları. Istanbul: Envar Neşriyat, 2007
  • Bakkal A.: Bediüzzaman Said Nursi´nin Hadisleri Yorumlama Metodu. In: Katre, Hadis özel sayısı, Nr. 4, 2017, S. 27-57
  • Balbay M.: Mustafa Öztoprak. Bediüzzaman Said Nursi´nin Hadis Anlayışı. In: Katre, Nr. 14, 2022, S. 201-208
  • Bilen M.: Risale-i Nur´da hadis kabul kriterleri. In: İlmi Araştırmalar Dergisi, Volume 11, Nr. 2 (24), 1999, S. 428-439
  • Bilen M.: Bediüzzaman Said Nursi ve Hadis. Siyer Yayınları: Istanbul, 2020
  • Buhari: Sahih Bukhari. Istanbul: Çağrı Yayınları, 1992
  • Can M. A.: Said-i Nursi’nin Risale-i Nur Külliyat’ında Geçen Hadislerin Tahrîci ve Değerlendirilmesi. Yüksek Lisans Tezi, Konya, 2014
  • Demir B.: Zayıf Hadisle Amel ve Said Nursi´nin yaklaşımı. In: Katre, Hadis özel sayısı, Nr. 4, 2017, S. 95-114
  • Göktaş Ü.: Arap Dili ve Belagatı Açısından Bediuzzaman Said Nursî. Yüksek Lisans Tezi, Erzurum, 2011
  • Muslim: Sahih-i Muslim. Istanbul: Irfan Yayınevi, 2014
  • Nursi S.: Şualar. Yeni Asya: Istanbul, 2000
  • Nursi S.: Mektubat. Yeni Asya: Istanbul, 2001
  • Nursi S.: Diskussionen. Yeni Asya: Köln, 2011
  • Nursi S.: Strahlen. VFJH: Köln, k.A.a
  • Nursi S.: Sein Leben und Werk. VFJH: Köln, k.A.b
  • Nursi S.: Worte. VFJH: Köln, k.A.c
  • Nursi S.: Blitze. VFJH: Köln, k.A.d
  • Nursi S.: Der Koran – Ein Zeichen des Wunders. VFJH: Köln, k.A.e
  • Nursi S.: Briefe. VFJH: Köln, k.A.f
  • Nursi S.: Ärztliches Rezept. VFJH: Köln, k.A.g
  • Özmen R.: Ahmed B. Hanbel ve zayıf hadis´le amel meselesi. In: Yüzüncü Yıl Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi 5 / 6, Juni 2017, S. 1-15
  • Paksu O. A.: Bedîuzzaman ve İşârâtu’l-İ’câz Tefsiri. Yüksek Lisans Tezi, Sakarya, 1997
  • Tirmizi: Sünenü’t-Tirmidhi. Istanbul: Çağrı Yayınları, 1981

Cemil Sahinöz, Islamische Zeitung, November 2022

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(08.06.2021) Menschenbild im Islam im Kontext der Seelsorge

Menschenbild im Islam im Kontext der Seelsorge

Das Menschenbild, die Wahrnehmung des Menschen in seiner Not, ist ein zentrales Thema in der Seelsorge. Denn der Seelsorger begegnet zunächst einmal dem Menschen in seiner reinsten Form. Daher ist es grundlegend zu schauen, wie der Mensch betrachtet wird, welches Menschenbild herrscht.

Der Islam geht davon aus, dass die gesamte Schöpfung, Lebewesen sowie leblose Körper, Kunstwerke eines Künstlers sind, Bücher eines Autors sind. Der Mensch wird dabei als die höchste Frucht dieses Kunstwerkes bezeichnet. So heißt es z.B. im Koran „Wir haben den Menschen ja in schönster Gestaltung erschaffen“ (Koran, 95:4).

Im Koran bezeichnet Gott den Menschen auch als seinen Stellvertreter auf Erden (Koran, 2:30) und gibt ihm damit einen Stellenwert, der seine Wertschätzung vor Gott signalisiert. Gott hat dem Menschen Eigenschaften gegeben, die er selbst auch hat. Sehen, hören, aber auch Entscheidungen zu treffen. Und das unterscheidet ihn von anderen Lebewesen, die nur kurzfristig instinktiv entscheiden können. Der Mensch plant für die Zukunft, trifft langfristige Entscheidungen. Und aus diesen Entscheidungen, diesem freien Willen, entstehen Konsequenzen. Denn er ist verantwortlich für das, was er tut und manchmal auch für das, was er nicht tut.

Damit wären wir bei einem weiteren Faktor im Menschenbild des Islams. Der Mensch ist ein Wesen, der, auf Grund seines freien Willens, geprüft wird. Der Schöpfer, der Künstler also, prüft in diesem Falle seine Kunst und schaut, für welche Option er sich entscheidet. Wenn Gott ihm Gesundheit, Reichtum, Gaben gewährt, zeigt der Mensch Dankbarkeit? Wenn er krank ist oder in der Not, zeigt er Geduld und Gottvertrauen? Dass heißt, sowohl scheinbar positive als auch scheinbar negative Ereignisse werden als eine Art der Prüfung betrachtet. Der Mensch ist in der Lage, alle Attribute Gottes zu erkennen.

Im Kontext der Seelsorge bedeutet dies, dass der Mensch, der laut einem Koranvers für den Gottesdienst erschaffen wurde (Koran, 51:56), der Klient gegenüber dem Seelsorger, nicht als etwas Negatives, Gescheitertes oder Verlorenes betrachtet wird, nur, weil er in einer Krise oder Not ist. Der Mensch in der Not ist, unabhängig von seinen anderen Faktoren wie Beruf, Status oder Herkunft jemand, dem Hilfe in seiner Prüfung geleistet werden soll. In diesem Sinne lässt der Seelsorger in seinem Tun und Handeln die Barmherzigkeit des Schöpfers wirken.

Dieses Menschenbild, dieses Verständnis, führt in der Seelsorge dazu, dass dem Menschen offen, wertschätzend, vorurteilsfrei und nicht verurteilend begegnet wird. Jeder Mensch wird gleichbehandelt und da abgeholt, wo er sich persönlich befindet. Und das wiederum ist eine Bedingung, damit eine gute, effektive Seelsorge stattfinden kann.

Dr. Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, Juni 2021

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(11.05.2021) Islamische Militär-, Feuerwehr- und Polizeiseelsorge

Islamische Militär-, Feuerwehr- und Polizeiseelsorge

Seit einem Jahrzehnt sind die Themen islamische Seelsorge und muslimischer Wohlfahrtverband zu Recht auf der Tagesordnung der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland und vielen anderen Staaten Europas. Auch die Politik, z.B. in Gestalt der Deutschen Islam Konferenz oder in den verschiedenen Ministerien der Bundesländer, hat sich des Themas angenommen.

In vielen Bereichen und Seelsorgedisziplinen gibt es inzwischen Ausbildungsmöglichkeiten und Einsatzgebiete, wobei die Frage der Finanzierung größtenteils nicht geklärt ist. In den Bereichen Krankenhausseelsorge, Gefängnisseelsorge, Telefonseelsorge und Notfallseesorge hat sich in vielen Regionen etwas getan.

Militärseelsorge: Bedarf vorhanden, Lösung fehlt

Die Militärseelsorge wird seit ca. einem Jahrzehnt diskutiert. Das zentralste Problem hierbei besteht gegenwärtig darin, dass juristisch und politisch auf eine bestimmte Struktur bestanden wird, die es im Islam jedoch nicht gibt. Laut dem Grundgesetz steht jedem Soldaten ein Seelsorger seiner Religionsgemeinschaft zu. Die islamischen Gemeinschaften erfüllen jedoch nicht die gesetzlichen Kriterien einer Religionsgemeinschaft, wie sie im Grundgesetz definiert sind. Soziologisch betrachtet sind sie ganz gewiss Religionsgemeinschaften, aber die juristische Definition aus dem Grundgesetz wird hier scheinbar nicht erfüllt. Entsprechende Anträge werden immer wieder abgelehnt.

Da aber ein großer Bedarf für eine muslimische Militärseelsorge besteht, macht es Sinn, alternative Wege zu gehen. Dass bedeutet, es müsste möglich sein, Zwischenlösungen zu finden, wie z.B., dass man mit den bestehenden muslimischen Gemeinschaften einen Vertrag über die muslimische Seelsorge abschließt und auf der Basis dieses Vertrages muslimische Militärseelsorger einstellt. Der zuständige Bundesinnenminister erklärte schon im September 2016, dass ein Bedarf an muslimischen Seelsorgern bei der Polizei und der Bundeswehr besteht.

Auch Polizisten brauchen seelsorgerische Begleitung

Während also das Thema Militärseelsorge zumindest auf der Tagesordnung von verschiedenen Institutionen auftaucht und in regelmäßig in den Medien thematisiert wird, finden die Bereiche Feuerwehrseelsorge und Polizeiseelsorge bisher kaum Beachtung, obwohl auch hier ein Bedarf klar erkennbar ist.

Über den Anteil der Muslime bei der Polizei und der Feuerwehr gibt es keine Zahlen, da die muslimische Zugehörigkeit in den Statistiken nicht erfasst wird. Jedoch gibt es einige Studien zum Migrationshintergrund der eingestellten Personen bei der Polizei. So lag der Anteil der neu eingestellten Personen mit Migrationshintergrund bei der Polizei im Jahre 2019 in Baden-Württemberg bei 27,2%, in Berlin bei 32,5%, in Bremen bei 14,7%, in Hamburg bei 15,5%, in Hessen bei 21,7%, in Niedersachsen bei 12,1%, in Nordrhein-Westfalen bei 13,3%, in Rheinland-Pfalz bei 13,3% und in Sachsen-Anhalt bei 7,3%. Für die anderen Bundesländer liegen keine Daten vor (Quelle: Mediendienst Integration, 2019).

Da im gleichen Jahr 28,3% der Migranten in Deutschland Muslime waren, kann man davon ausgehen, dass viele muslimische Polizeibeamte im Dienst sind. Wie auch ihre nichtmuslimischen Kollegen, brauchen diese Seelsorge, um mit den verschiedenen seelischen Konflikten und Belastungen, die bei Polizeieinsätzen entstehen können, umzugehen. Nicht nur die Polizeibeamten selbst, sondern auch ihre Angehörigen haben einen Bedarf nach seelsorgerischen Gesprächen. Daher scheint der Aufbau einer islamischen Polizeiseelsorge sehr sinnvoll zu sein, um diesen Bedarf decken zu können.

Ohnehin sind einige Polizeieinrichtungen jetzt schon involviert in die Ausbildung von muslimischen Notfallseelsorgern. Diese muslimischen Notfallseelsorger werden bei verschiedenen Situationen eingesetzt, sind jedoch überwiegend nicht für die Polizeibeamten, sondern für die Betroffenen und Angehörigen von Notsituationen zuständig.

Der Bedarf nach Seelsorgern für Polizeibeamte, die nicht christlich sind, besteht auch für Personen anderer Glaubensrichtungen als dem Islam. So wurde ein erster jüdischer Polizeiseelsorger Dezember 2020 gemeinsam mit dem Land Baden-Württemberg ernannt und Juni 2021 der erste jüdische Militärseelsorger.

Zum Migrationshintergrund bei der Feuerwehr gibt es keine zuverlässigen Zahlen. Jedoch bietet sich auch in diesem Bereich an, jetzt schon zu planen, damit nicht erst dann gehandelt wird, wenn es “brennt“.

Dr. Cemil Şahinöz

Islamische Zeitung, Mai 2021
https://islamische-zeitung.de/fuer-die-geistliche-betreuung-braucht-es-neue-wege/


IslamIQ, 30.05.2021
https://www.islamiq.de/2021/05/30/bundeswehr-und-polizei-brauchen-auch-muslimische-seelsorger/

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(03.04.2021) Goethe und der Koran

Goethe und der Koran

In Bezug auf den Islam, kennt man von Goethe Zitate, wie z.B.:

„Jesus fühlte rein und dachte
Nur den Einen Gott im Stillen;
Wer ihn selbst zum Gotte machte
Kränkte seinen heil’gen Willen.
Und so muß das Rechte scheinen
Was auch Mahomet gelungen;
Nur durch den Begriff des Einen
Hat er alle Welt bezwungen.“
(West-östlicher Divan, WA I, 6, 288 ff)

„Oberhaupt der Geschöpfe – Muhammed.“
(West-östlicher Divan, WA I, 6, 482)

„Wenn Islam »Gott ergeben« heißt, In Islam leben und sterben wir alle.“
(West-östlicher Divan)

„Ob der Koran von Ewigkeit sei?
Darnach frag‘ ich nicht!
Daß er das Buch der Bücher sei
Glaub ich aus Mosleminen-Pflicht.“

Diese und andere Zitate und Begebenheiten führten in der Vergangenheit dazu, dass das Verhältnis von Goethe zum Islam immer wieder thematisiert wurde. Die Spannbreite der Diskussionen fängt bei „Goethe bewunderte den Islam“ an und hört bei „Goethe konvertierte zum Muslim“ auf.

Diesen Diskussionen leisten Karl-Josef Kuschel und Shahid Alam mit ihrem Werk “Goethe und der Koran“ (erschienen im Patmos Verlag) einen großen Beitrag. In ihrem fast 450 seitigen Werk dokumentieren sie vollständig alle Texte Goethes zum Islam und geben damit einen umfassenden Überblick über die Gedanken des Dichters zur islamischen Religion.

Auch einige Schreibübungen der arabischen Schrift von Goethe sind Bestandteil des Werkes. So schrieb Goethe u.a. die 114. Sure des Korans in Arabisch ab. Eine Zeittafel am Ende des Buches zeigt die wichtigsten Daten zu Goethe und Islam.

Die Textstellen Goethes werden auf dem gegenwärtigen Stand der Goethe-Forschung von Kuschel ausführlich kommentiert. Die Kalligrafien des Buches stammen vom renommierten Kalligrafen Shahid Alam.

Besonders bedeutend wird im Buch Goethes Westöstlicher Divan. Dieser ist wie ein Dialog zwischen Goethe und dem muslimischen Dichter Hafiz, den Goethe als sein “Zwillingsbruder“ bezeichnete. Im Westöstlichen Divan kommen daher viele Gedanken und Sichtweisen Goethes zum Islam hervor. So schreibt er in einer Notiz, laut dem ein Gerücht besagen würde, dass er selbst ein Muslim sei, dass er nicht geneigt sei, dieses Gerücht abzulehnen.

Insgesamt ist das Werk von Kuschel und Alam ein umfassendes Werk zum Thema “Goethe und Islam“, dass nicht nur alle Textstellen Goethes zum Islam herausarbeitet, sondern diese auch in einen historischen Kontext bringt.

Nicht zuletzt ist das Buch auch ein Dialogbuch, dass den Leser einlädt, in einen aufrichtigen Dialog der Kulturen und Religionen zu treten.

Cemil Sahinöz, Islamische Zeitung, 03.04.2021
https://islamische-zeitung.de/buchvorstellung-goethe-und-der-koran-dokumentiert-schriften-des-dichters/

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(19.03.2021) Schweinefleischgebot im Islam

Schweinefleischgebot im Islam

Das Schweinefleischgebot ist schon in der Bibel verankert. So heißt es z.B. im Alten Testament: „Und das Schwein, denn es hat gespaltene Hufe, und zwar ganz gespaltene Hufe, aber es käut nicht wieder: Unrein soll es euch sein. Von ihrem Fleisch sollt ihr nicht essen und ihr Aas nicht anrühren: Unrein sollen sie euch sein“ (3. Buch Mose 11, Vers 7-8). An anderer Stelle heißt es: „Und das Schwein, denn es hat gespaltene Hufe, aber es käut nicht wieder: Unrein soll es euch sein. Von ihrem Fleisch sollt ihr nicht essen, und ihr Aas sollt ihr nicht anrühren“ (5. Mose 14, Vers 8). Daher essen auch Juden und zahlreiche christliche Gruppen kein Schweinefleisch.

Auch der Koran nimmt Bezug zum Schweinefleisch. Hier heißt es:


„Verboten hat Er euch nur (den Genuss von) Verendetem, Blut, Schweinefleisch und dem, worüber ein anderer (Name) als Allah(s) angerufen worden ist. Wer sich aber in einer Zwangslage befindet, ohne zu begehren oder das Maß zu überschreiten, für den ist es keine Sünde. Allah ist Allvergebend und Barmherzig.“ (Koran, 2:173)

„Verboten ist euch (der Genuss von) Verendetem, Blut, Schweinefleisch und dem, worüber ein anderer (Name) als Allah(s) angerufen worden ist, und (der Genuss von) Ersticktem, Erschlagenem, zu Tode Gestürztem oder Gestoßenem, und was von einem wilden Tier gerissen worden ist – außer dem, was ihr schlachtet – und (verboten ist euch,) was auf einem Opferstein geschlachtet worden ist, und mit Pfeilen zu losen.“ (Koran, 5:3)

„Sag: Ich finde in dem, was mir (als Offenbarung) eingegeben wurde, nichts, das für den Essenden zu essen verboten wäre, außer es ist Verendetes oder ausgeflossenes Blut oder Schweinefleisch – denn das ist ein Greuel – oder ein Frevel, worüber ein anderer (Name) als Allah(s) angerufen worden ist. Wer sich aber in einer Zwangslage befindet, ohne zu begehren oder das Maß zu überschreiten, – so ist dein Herr Allvergebend und Barmherzig.“ (Koran, 6:145)

„Verboten hat Er euch nur (den Genuss von) Verendetem, Blut, Schweinefleisch und dem, worüber ein anderer (Name) als Allah(s) angerufen worden ist. Wer sich aber in einer Zwangslage befindet, ohne zu begehren oder das Maß zu überschreiten, so ist Allah Allvergebend und Barmherzig.“ (Koran, 16:115) Die Muslime verzichten aber nicht nur auf Schweinefleisch. Sie verzichten auch auf andere Tiere, von denen sie ausgehen, dass diese nicht zum Essen geschaffen worden sind. Man geht also theologisch davon aus, dass alles Erschaffe, jedes Lebewesen, aber auch alles in der Natur, einen Sinn und Zweck hat. Jedes Tier hat eine bestimmte Aufgabe und einen Sinn, warum es existiert. Dabei gibt es Tiere, die zum Verzehren da sind und Tiere, die nicht zum Essen bestimmt sind, sondern anderen Zwecken dienen. Im Allgemeinen sind Raubtiere, Tiere mit Klauen, Aasfresser, Insekten, die unter der Erde leben, nicht erlaubt – mit geringfügigen Abweichungen in den einzelnen Rechtsschulen. Dass gerade Schweinefleisch explizit im Koran erwähnt wird, hängt damit zusammen, dass der Kontext, in dem der Koran geoffenbart wurde, eine Gegend war, in der viel Schweinefleisch gegessen wurde.

Cemil Şahinöz, Ayasofya Nr. 64

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(19.03.2021) Tierschutz und Tierliebe bei Said Nursi

Tierverständnis von Said Nursi

Der Islamgelehrte Said Nursi betrachtete Tiere als Kunstwerke des Schöpfers. In diesem Sinne gab er ihnen eine große Wertschätzung. Er sah kein Recht des Menschen darin, Tiere zu stören oder gar ihnen das Leben zu nehmen.

Ameisen

Wenn Said Nursi Ameisen sah, gab er ihnen immer Brot, Weizen und Zucker. Wenn er gefragt wurde, warum er ihnen Zucker gab, antwortete er lächelnd: „Das soll ihr Tee werden.“

Während der Zeit, die er im Mausoleum verweilte, brachte Said Nursis kleiner Bruder Mehmed ihm das Essen. Nursi gab die Körner im Essen den Ameisen, die sich rund um die Kuppel einfanden, und begnügte sich selbst damit, das Brot in die Soße des Essens einzutauchen. Gefragt, warum er die Körner den Ameisen gäbe, gab er zur Antwort: „Ich habe sie bei ihrer Arbeit beobachten können und herausgefunden, dass sie ein Gemeinschaftsleben besitzen und außerordentliche Treue zur Pflichterfüllung und möchte sie zur Belohnung für ihre Liebe zur Republik.“ (Said Nursi, Sein Leben und Werk, S. 60)

Said Nursis Schüler Molla Hamid Ekinci berichtet von einer weiteren Begebenheit mit Ameisen. Als sie auf dem Berg Erek waren und es langsam kalt und regnerisch wurde, suchen sie sich einen Platz zum “Zeltaufschlagen“. Dabei entdecken sie einen Ameisenhaufen. Nursi möchte daraufhin das Zelt nicht auf diesem Platz aufschlagen. Als Begründung sagte er: „Man kann nicht ein Haus errichten, in dem man ein Haus zerstört. Zerstört das Haus der Ameisen nicht.“

Daraufhin suchen sie sich einen anderen Platz. Doch auch da ist ein Ameisenhaufen zu sehen. Noch einmal wechselt sie den Platz und auch hier sind wieder Ameisen zu finden. Sie finden kein Platz ohne Ameisen auf dem Berg, so sagte einer der Begleiter: „Wenn das so weiter geht, werden wir den ganzen Tag suchen müssen.“ Also schlagen sie an einem Ort ihr Zelt auf, ohne Nursi etwas zu sagen.

Fliegen

Als Said Nursi zu Unrecht im Gefängnis saß, gab es kleinere solcher Erlebnisse bezüglich Fliegen. Als im Gefängnis Fliegengift versprüht wurde, um sich vor der Fliegenplage zu retten, hatte Nursi Mitleid mit den Fliegen. Er bedauerte ihre Situation.

Zudem gab es in seiner Zelle es eine Wäscheleine, worauf sich die Fliegen setzten. Immer, wenn jemand Wäsche aufhängen wollte, sagte Nursi, dass man die Fliegen nicht stören soll und daher eine andere Wäscheleine nutzen solle.

Hunde

Eines Tages, als einige Personen über ein Hund redeten, riet ihnen Said Nursi: „Lästert nicht über den Hund.“ Mit seinem Fehlgefühl setzte er sich so für die Rechte der Tiere ein.

Katzen

In seinem Werk „Die Briefe“ berichtet Said Nursi davon, dass die Katzen für ihn ein Segen Gottes waren: „Nicht nur die Nahrung der alten Verwandten, sogar auch die mancher Tiere wie Katzen, die dem Menschen als Freund gegeben wurden und deren Nahrung innerhalb der Versorgung der Menschen gesandt wird, kommt in Fülle. Ein Beispiel, das dieses bestätigt und welches ich erlebt habe: Meine nächsten Freunde wissen auch: Vor zwei, drei Jahren hatte ich jeden Tag ein halbes Brot – das Brot in diesem Dorf war damals klein – als Ration, die mir meistens nicht ausreichte. Dann kamen zu mir vier Katzen als Gäste. Dieselbe Ration reichte sowohl für mich als auch für sie. Meistens blieb noch etwas übrig. Es wiederholte sich dieser Umstand dermaßen oft, dass ich zu der Überzeugung gelangte, ich hätte einen Nutzen aus der Segensfülle der Katzen. Mit fester Überzeugung gebe ich bekannt: Sie waren mir keine Last und mir gegenüber keinen Dank schuldig, sondern ich war ihnen zu Dank verpflichtet.“ Im 24. Wort erwähnt Said Nursi zudem, dass Katzen nicht undankbar sind, wie vielerorts angenommen, sondern, ganz im Gegenteil, den wahren Spender der Gaben erkennen und nur ihm danken, als dem Schöpfer: „Ich betrachtete sogar einmal die Katzen. Sie aßen ihre Speisen, spielten und schliefen. Ich dachte: »Wie kann man diese kleinen Raubtiere, die keine Pflichten haben, für gesegnet halten?« Später, in der Nacht legte ich mich hin, um zu schlafen. Ich merkte, eine von diesen Katzen kam und schmiegte sich an mein Kissen an. Sie legte ihren Kopf nahe an mein Ohr. Eindeutig rief sie »oh Barmherziger, oh Barmherziger, oh Barmherziger, oh Barmherziger«, als wiese sie den Einspruch und die Herabschätzung in meinen Gedanken im Namen ihrer Gattung zurück und hielte sie mir vor. Ich fragte mich, ob dieser Ausruf nur dieser einen Katze zu Eigen war oder ihrer ganzen Gattung im Allgemeinen, und ob ihn zu hören, nur mir, der ich ungerecht urteilte, möglich war, oder ob jeder andere, der ein wenig darauf achtete, gewissermaßen dasselbe hören könne? Später, am Morgen hörte ich die anderen Katzen. Nicht so klar wie diese eine in der Nacht, doch auch sie wiederholten denselben Ausruf mit unterschiedlicher Deutlichkeit. Anfänglich hörte man ihr Schnurren, erst dann bemerkte man den Ausruf »oh Barmherziger (ya Rahim)«. Allmählich wurde ihr Murren und Schnurren ein »ya Rahim«. Es wurde eine melancholische Rezitation, leise, gleichsam flüsternd, aber dennoch verständlich. Sie schlossen ihr Maul und rezitierten auf Schönste »ya Rahim«. Ich erzählte das den Mitbrüdern, die mich besuchten. Auch sie achteten darauf und sagten: »In gewissem Grade hören wir es.« Dann kam es mir in das Herz: »Woran liegt es, dass sie nur diesen Namen ausrufen? Warum rezitieren sie mit menschlicher Zunge und nicht in der Sprache der Tiere?« Mir kam ins Herz: Diese Tiere sind wie Kinder verpäppelt und verwöhnt und ein Freund des Menschen, der mit ihm zusammen lebt. Deswegen bedürfen sie besonders der Liebe und Barmherzigkeit. Sie freuen sich, wenn sie gestreichelt werden. Als Dank für diese Zuwendung lassen sie, anders als die Hunde, die Ursachen außer Acht und machen die Barmherzigkeit ihres barmherzigen Schöpfers in ihrer Welt bekannt. Dadurch ermahnen sie die Menschen, die im Schlaf der Gottvergessenheit sind, und sie erinnern die Ursachenanbeter mit dem Ausruf »oh Barmherziger«, von wem die Hilfe kommt und von wem man Barmherzigkeit erwarten soll.“

Für Said Nursi waren also Tiere Lebewesen und Schöpfungen des Einen Künstlers. Daher gab er ihnen große Beachtung und schütze sich in enormer weise.

Cemil Şahinöz, Ayasofya Nr. 64

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(10.03.2021) Die Miradsch-Nacht aus Sicht des Islamgelehrten Said Nursi

Die Miradsch-Nacht aus Sicht des Islamgelehrten Said Nursi

Die Miradsch-Nacht ist eine besondere Nacht für die Muslime. Laut den islamischen Quellen wurde der Prophet Muhammed in dieser Nacht nach Jerusalem gebracht. Von dort aus stieg er in den Himmel. Hier begegnete er vielen Propheten, sah das Paradies und kommunizierte mit dem Schöpfer.

Diese Kommunikation ist in dem At-Tahiyyât-Gebet niedergeschrieben. Der Prophet sagte zum Schöpfer: „Ehre sei Allah und Anbetung und Heiligkeit.“ Der Schöpfer entgegnete ihm: „Friede sei mit Dir, o Prophet, und die Barmherzigkeit Allahs und Seine Segnungen.“ Daraufhin sagte der Prophet: „Friede sei mit uns und den frommen Dienern Allahs.“ Die Engel sagten dann voller Erstaunen über diese Kommunikation: „Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah, und ich bezeuge, dass Muhammad Sein Diener und Gesandter ist.“

Von der Himmelfahrt kam der Prophet mit drei Geschenken zurück: 1. Das 5-mal tägliche Gebet. 2. Die zwei letzten Verse der Sure Al-Baqara. 3. Der Eintritt ins Paradies für die Gläubigen.

Im Koran wird an verschiedenen Stellen von dieser Nacht berichtet:
„Gepriesen sei Der, Der seinen Diener des Nachts von der unverletzlichen Moschee zur fernsten Moschee führte, deren Umgebung Wir gesegnet haben, um ihm einige von Unseren Zeichen zu zeigen. Wahrlich, Er ist der Hörende, der Schauende.“ (Koran: 17,1)
„Wollt ihr ihm denn bestreiten, was er sah? Und wahrlich, er sah ihn noch ein zweites Mal. Bei dem Lotosbaum am äußersten Ende. Neben dem Garten der Geborgenheit, Als den Lotosbaum verhüllte, was ihn verhüllte. Da wich der Blick nicht aus, noch schweifte er ab. Wahrlich, er sah einige der größten Wunder seines Herrn!“ (Koran, 53:12-18)

In der islamischen Literatur gibt es zahlreiche Auslegungen dieser Nacht. Der islamische Gelehrte Said Nursi (1877-1960) ist einer der zeitgenössischen Gelehrten, die sich mit der Himmelfahrt in der Miradsch-Nacht beschäftigen.

Nursi behandelt das Thema im 31. Wort seines Werkes “Die Worte“ (S. 1007-1056). In der Einführung zum Thema schreibt Nursi, dass die Adressaten seines Textes Muslime sind. Dies ist insofern wichtig, da Nursi in seinem Text nicht auf “Beweise“ oder “Möglichkeiten“ der Himmelfahrt eingeht. Daher beschäftigt er sich mit vier Fragestellungen, die tatsächlich Muslime im Kontext der Himmelfahrt besprechen. Zunächst fragt er nach dem Sinn der Himmelfahrt. Im zweiten Abschnitt geht es um die Wahrheit hinter der Himmelfahrt. In der dritten Fragestellung beschäftigt er sich mit der Weisheit der Himmelfahrt. In der letzten Fragestellung geht es um die Früchte und Ergebnisse, welche die Himmelfahrt mit sich bringt.

Bei der Frage nach dem Sinn der Himmelfahrt, erläutert Nursi, dass sie eine Ausdrucksweise der Gottesfreundschaft des Propheten Muhammeds ist. Er bezeichnet dabei die Gottesfreundschaft als Weg über die Stufen der Annäherung zu Gott. Da der Prophet Muhammed „das geistige Bild der Schöpfung umwandelte und sie mit Licht erfüllte“ (S. 1015), sei er es auch, dem die Himmelfahrt, welches die höchste Stufe der Gottesfreundschaft darstellt, am meisten gebührt.

Über die Wahrheit hinter der Himmelfahrt schreibt Nursi, dass sie aus der Fahrt und der Reise des Propheten Muhammeds besteht. Der Schöpfer, der der Herrscher der Erde und der Himmel ist, und Macht über sie hat, ist in der Lage, seinem Geschöpf diese Reise in nur einem Augenblick zu ermöglichen. Der Prophet Muhammed reiste durch alle Ebenen und Bereiche der Schöpfung und sah dadurch die Herrschaft, Souveränität und den Willen Gottes. Ihm wurde die Ehre teil, direkt mit dem Schöpfer zu kommunizieren. Er machte diese Reise und sprach mit dem Schöpfer als Stellvertreter für alle Geschöpfe.

In der dritten Fragestellung geht es um die Weisheit, die hinter der Himmelfahrt steckt. Hier schreibt Nursi, dass der Schöpfer, diese Welt so erschaffen hat, „dass alles, was da ist, mit zahllosen Zungen Seine Vollkommenheit rezitiert und anhand so vieler Zeichen Seine Schönheit zeigt. Dieses Universum zeigt mit allem, was in ihm ist, wie viele verborgene geistige Schätze sich in jedem Seiner Schönen Namen finden und wie Subtiles in jeder Beziehung Seiner Heiligkeit verborgen ist“ (S. 1037). Alles Erschaffene im Universim gibt Gottes unendliche Vollkommenheit, Seine Namen und Seine Eigenschaften bekannt und bringt Seine Vollkommenheit, Seine Schönheit und die Wahrheit Seiner Namen zum Ausdruck. Um das gesamte Kompendium Seiner umfangreichen Schönheit und Vollkommenheit zu zeigen, erfordert es einen außerordentlichen Akt, wie z.B. die Himmelfahrt.

Im letzten Abschnitt geht Said Nursi der Frage nach, welche Früchte und Wohltaten die Himmelfahrt mit sich bringt. Vor allem, was es für die übrigen Gläubigen bedeutet. Der Prophet Muhammed konnte mit eigenem Auge die Gaben Gottes, die Engel, das Paradies, das Jenseits betrachten und die Schönheit der Schöpfung wahrnehmen. Er sah die Schatzkammern Gottes und brachte deren Schlüssel der Menschheit. Dies bezeichnet Nursi als eine wichtige Frucht der Himmelfahrt. Desweiteren bezeichnet er das rituelle Gebet (salat), welches an diesem Tag 5-mal täglich auferlegt wurde, als großes Geschenk der Himmelfahrt. Denn dieses rituelle Gebet gibt dem Gläubigen (dem Liebendem) die Möglichkeit, zu wissen, womit der Schöpfer (sein Angebeteter) zufrieden gestellt werden kann. Jedes rituelle Gebet wird dadurch, laut einem Hadith, zur Himmelfahrt eines jeden Betenden. Zudem wurde durch die Himmelfahrt deutlich, dass der Mensch die kostbarste Frucht des Universums ist. Seine Berufung als Khalif wurde hierdurch noch einmal bestätigt.

Auch der Frage, ob die Himmelfahrt körperlich oder nur seelisch stattfand, geht Nursi kurz nach. Hier beschreibt er, dass der Prophet Muhammed sowohl körperlich als auch seelisch die Himmelfahrt absolvierte und dass dies für den Schöpfer keine Schwierigkeit bedeutet.

Insgesamt gesehen ist Nursis Annäherung an das Thema ganz anders als die bekannten Kommentare, in denen es vor allem um das Narrativ geht. Nursi versucht hier, den Sinn und die Weisheit der Himmelfahrt zu verstehen und die Bedeutung für die Muslime herauszuarbeiten.

Dr. Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, 10.03.2021

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(29.11.2020) Spiritueller Impfstoff gegen das Corona-Virus

Spiritueller Impfstoff gegen das Corona-Virus

In der Menschheitsgeschichte gab es immer wieder Epidemiemalin und Pandemien, bei denen Millionen Menschen starben.

Die bekannteste älteste Epidemie ist die Pest gewesen, die 3500 v. Chr. in ganz Europa herrschte. Wie viele Tote es damals gab, kann nicht bestimmt werden. Als die Pest 1346 bis 1353 noch einmal durch Europa, Asien und Afrika zog, starben 100-125 Millionen Menschen. Ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung verstarb damals an der Pest, daher wird sie auch als der Schwarze Tod bezeichnet. Bis zu Beginn des 19. Jhr. brach die Pest noch ca. 30mal in verschiedenen Regionen aus, z.B. 1708-1714 in Nord- und Osteuropa mit einer Million Toten, 1894-1912 in China und der Karibik mit 12 Millionen Toten.

Nicht nur die Pest, sondern auch andere Epidemien, wie z.B. die 1918-1920 die Spanische Grippe mit 27-50 Millionen Toten, 1961-1990 Cholera mit mehreren Millionen Toten, führten zu menschlichen Katastrophen.


Einige der Krankheiten konnten besiegt werden, einige gibt es weiterhin, jedoch nicht mehr in so großem Ausmaß oder in anderen Formen. Die aktuelle Corona-Pandemie (COVID-19, SARS-CoV-2) zählt seit November 2019 1,3 Millionen Tote.

Mehrere Unternehmen arbeiten derzeit an einem Impfstoff gegen das Corona-Virus. Einige Impfstoffe sind schon auf dem Markt und/oder werden bald eingeführt.

Impfstoffe führen allgemein dazu, dass das Immunsystem des Menschen gegen bestimmte Stoffe aktiviert wird. Daher gelten sie als vorbeugende Maßnahmen gegen verschiedene Krankheiten.

Der Mensch besteht jedoch nicht nur aus Körper und Leib. Nicht nur sein körperliches Empfinden, sondern auch sein seelisches Empfinden führen zu einer Krankheit oder Gesundheit. Oft beeinflusst die Psyche des Individuums seinen Körper, so dass z.B. Stress oder seelische Belastungen zu körperlichen Krankheiten führen.


Auch in Zeiten von Epidemien und Pandemien spürt der Mensch seelische Belastungen. Seine Psyche wird negativ beeinflusst. Auch wenn eine Pandemie vorüber sein sollte, können dann psychische Erkrankungen fortbestehen.


Daher ist es wichtig, nicht nur ein Impfstoff für den Körper, sondern auch für Geist und Seele einzunehmen, einen sogenannten spirituellen Impfstoff.


Diesen bietet der Islam auf verschiedene Art und Weisen an. Vor allem ist es aber die menschengerechte und seiner naturentsprechende Lebensweise, die zu einem Einklang zwischen Körper und Seele führt. Im Leben des Propheten Muhammed gibt es hierzu zahlreiche praktische Beispiele.


Als theologisches Gerüst findet man hierbei vor allem zwei Aspekte: Geduld (Sabr) und Gottvertrauen (Tawakkul).

Der Begriff der Geduld spielt in der islamischen Theologie und im islamischen Alltag eine wichtige Schlüsselrolle für die Bewältigung von Krisensituationen. Da damit das Vertrauen auf Gott symbolisiert wird, gilt sie als eine hohe Tugend und es gibt eine ausgiebige Literatur hierzu.

Als Beispiel für Geduld wird in der islamischen Literatur oft der Prophet Hiob, der auch „Held der Geduld“ genannt wird und der für seine Geduld gelobt wird (Koran, 38:44), herangezogen. Laut der Erzählung befand sich der Prophet Hiob in einem schwer erkrankten Zustand. Er zeigte solange Geduld, bis die Krankheit sein Herz und seine Zunge erreichten. Erst dann sprach er ein Gebet, nicht um seiner eigenen Gesundheit willen, sondern um weiterhin Gott anbeten zu können, da er befürchtete dies nicht mehr bewerkstelligen zu können, wenn sein Herz und seine Zunge von der Krankheit befallen werden würden. Daraufhin gewährte ihm Gott Gesundheit und lies ihm dadurch seine Barmherzigkeit spüren. Diese Geschichte Hiobs ist ein klassisches Narrativ und wird in Not- und Krisensituationen oft als Handlungsempfehlung wiedergegeben.

Hintergrund dieser Empfehlung ist, dass theologisch davon ausgegangen wird, dass sich alles mit göttlicher Gewalt und göttlichem Wissen vollzieht. Daher wird vor allem in Krisensituationen Gottvertrauen vorausgesetzt (Koran, 2:153, 21:83, 3:159, 40:44; 5:23, 33:3, 26:217-220; 25:58; 67:29; 4:81; 11:87-88; 10:71; 14:11-12, 8:2-4; Tirmidhi). Damit soll signalisiert werden, dass man sich dem göttlichen Willen unterordnet und Gott vertraut. Dabei soll man mit der „Verteilung“ Gottes, also mit dem, was einem Menschen im Leben trifft, zufrieden sein. Gott soll dem Gläubigen dabei Genügen (Koran, 65:3, 39:36).

Gottvertrauen erfordert in diesem Kontext auch zu erkennen, dass etwas, was der Mensch als gut betrachtet, in Wirklichkeit schlecht für ihn sein kann und umgekehrt (Koran, 2:216). Hinter Leid steckt demnach eine göttliche Weisheit (Bukhari; Tirmidhi, 2396). Glaube und Vertrauen sollen hierdurch geprüft werden. Wer geduldig ist, soll Erbarmen erlangen. Hingegen wird der Verlust der Kontrolle in Notsituationen (Bukhari, 1294) oder das Fixieren auf die Fehler der Vergangenheit (Muslim; Nawawi, 100) als Fehlverhalten betrachtet.

Gleichzeitig wird es als Gottesdienst angesehen, wenn man gegen Leid und Schmerzen Gottvertrauen und Geduld zeigt und hierfür Gott nicht anklagt. In Notsituationen auf die Hilfe Gottes zu warten wird ebenfalls als ein Gottesdienst bewertet (Şeybani, Dschamiu´s Sagir, 3; Nawawi, 2033). Wer in solchen Situationen Geduld zeige, dem sollen die Sünden getilgt werden (Şeybani, Dschamiu´s Sagir, 3, 1274) und er wird gelobt (Koran, 42:43). In der islamischen Literatur wird hierbei betont, dass der Geduldige mit Gott zusammen ist (Koran, 8:46, 2:153) und er für seine Geduld belohnt wird (Koran, 39:10; Bukhari, Merda, 7; Abu Ya’la; Tabarani). Das Endresultat von Geduld sei dann Erfolg (Koran, 3:200), denn mit Geduld in Notsituationen könne der Mensch sowohl seine weltlichen als auch jenseitigen Wünsche erlangen. Aus dieser Argumentation heraus, werden Geduld und Gottvertrauen zu Gottesdiensten.

Es wird also davon ausgegangen, dass Gott niemanden mit einer Not,
einer Last, einem Problem oder einer Krise belastet, die er nicht tragen kann (Koran, 65:7, 23:62, 7:42, 2:286) und daher die Belastungen bewältbar sind (Koran, 90:4). Angst, Hunger, Minderung an Besitz, Menschenleben oder Gaben werden direkt als Prüfungen Gottes erachtet (Koran, 2:155). Prüfungen sind durch Gottes Hilfe bewältbar (Koran, 2:185, 94:5-6), der Schlüssel hierfür sei die Geduld (El-Münâvî, Feyzü’l-Kadîr, 6:298; Acluni, Keşfu’l-Hafa, 2:21; Nawawi, 62). Die schwierigsten „Prüfungen“ hatten demnach die Propheten selbst zu erleiden. Nur so konnten Propheten, die sich als Menschen ebenfalls in Notsituationen befanden, Vorbilder für die gesamte Menschheit sein. Daher wird in Situationen wie z.B. Unglück, Krankheit, finanzielle Notlage oder auch Abschlussprüfungen Geduld erwartet und vorausgesetzt (Koran, 4:78, 2:177, 12:83; Ahmed bin Hanbal, 5/367; Al-Albani, 3859; Bukhari, 1283). Mit Gottvertrauen, ohne sich auf das Ergebnis zu fixieren, solle man die notwendigen Mittel zur Beseitigung eines Problems, wie z.B. den Arzt aufsuchen, die Medizin einnehmen oder für die Prüfung lernen, anwenden.

Geduld und Gottvertrauen sind jedoch keine Vertröstungen und Trauer ist nicht verboten. Der Muslim geht davon aus, dass das Leben insgesamt betrachtet eine Prüfung ist (Koran, 21:35, 2:214, 67:2) und der Mensch entweder mit Geduld oder Danksagung (Baihaqi; Muslim) geprüft wird. Sowohl Krankheiten als auch Situationen, in denen keine Krankheiten vorliegen, werden als Prüfungen bezeichnet. Dass heißt jedoch nicht, dass sich der Muslim nicht um eine Wiederherstellung der Gesundheit kümmert. Den Körper, welches als Eigentum des Schöpfers betrachtet wird, zu pflegen, gehört zu einer muslimischen Lebensweise. So können zum Schutz des Lebens die in Normalfällen geltenden Regeln übertreten werden (Koran, 24:61; 48:17). Damit ist Geduld keine Passivität oder Legitimation fürs Nichthandeln sondern auch eine aktive Handlung, Hilfe bei Gott und den von ihm erschaffenen Mitteln zu suchen.

In der islamischen Literatur wird Gottvertrauen auch als eine „Eingangsstufe“ zur Spiritualität bezeichnet. Studien zeigen die Signifikanz von Gottvertrauen als Bewältigungsstrategie bei der Reduktion von Angst oder Depression

Auf Grund dieser Überlegungen werden Geduld und Gottvertrauen zu zwei Verhaltensformen, die wie ein spiritueller Impfstoff eingenommen werden können. Der Mensch kann dadurch einen Zustand des inneren Friedens erreichen und sich von Stress und psychischen Belastungen befreien.

Dr. Cemil Şahinöz, IslamIQ, 29.11.2020

Literatur

  • Abu Ya´la (1984): Musnad. Damaskus: Dar Al-Ma´mun Litturath
  • Acluni (1982): Keşfu’l-Hafa. Beirut: k.A.
  • Ahmed bin Hanbal (1982): Musnad. Istanbul: Çağrı Yayınları
  • Al-Albani (1986): Sahih al-Jami al-Saghir. Beirut: Maktab al-Islami
  • Baihaqi (1990): Suabu´l-Iman. Beirut: k.A
  • Bukhari (1992): Sahih Bukhari. Istanbul: Çagrı Yayınları
  • El-Münavi (1971): Feyzü´l Kadir. Beirut: k.A.
  • Muslim (2014): Sahih-i Muslim. İstanbul: İrfan Yayınevi
  • Nawawi A. (1999, 2002): Riyad us-Salihin. Gärten der Tugendhaften. München: SKD Bavaria
  • Şeybani (2013): Dschamiu´s Sagir. Istanbul: Ocak Yayıncılık
  • Tabarani (1978): Al-Muʿjam. Bagdad: Al-Dar al-ʻArabiyah lil-Tibaʻah

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(05.06.2020) Rolle der Senioren im Islam und die interkulturelle Seniorenarbeit in Deutschland

Rolle der Senioren im Islam und die interkulturelle Seniorenarbeit in Deutschland

In Zeiten von Corona hört oder liest man Kommentare, die einen nachdenklich machen. Weil Personen über 65 stärker gefährdet sind, gibt es hin und wieder Gedanken, wie z.B. „Die sind sowieso krank, die würden sowieso bald sterben. Uns Jugendlichen passiert ja nichts, also brauchen wir auch keine Vorkehrungen zu treffen.“ Dabei sind Senioren die Stützpfeiler einer jeden Gesellschaft.

 

Senioren genießen in muslimischen Gemeinschaften einen hohen Status innerhalb der Familie. Sie sorgen für den Segen der Familie. Man geht theologisch davon aus, dass man durch die Senioren Gottes Gnade erlangen kann.

 

Hierzu sagte z.B. der Prophet Muhammed: „Wenn es keine Älteren, deren Rücken vom Alter gebeugt sind […], gäbe, würden Unglücke wie eine Flut über euch strömen“ (El-Acluni, Keşfu’l-Hafa, 2:163; El-Münavî, Feyzü’l-Kadîr, 5:344, Nr. 7523; El-Beyhaki, Es-Sünenü’l-Kübrâ, 3:345). Demnach wird Gottes Segen auf Grund der älteren Menschen gegeben.

 

Eltern- und Altenpflege war für den Propheten zentral: „Das Paradies ist unter den Füßen der Mütter“ (Aişe, 1987, S. 165; Ibn Abdillberr, 1992).

 

Im Koran wird die Elternpflege noch stärker betont. So heißt es: „Und dein Herr hat befohlen: ´Verehrt keinen außer Ihm, und (erweist) den Eltern Güte. Wenn ein Elternteil oder beide bei dir ein hohes Alter erreichen, so sage dann nicht »Pfui!« zu ihnen und fahre sie nicht an, sondern sprich zu ihnen in ehrerbietiger Weise. Und senke für sie in Barmherzigkeit den Flügel der Demut und sprich: »Mein Herr, erbarme Dich ihrer (ebenso mitleidig), wie sie mich als Kleines aufgezogen haben.«´“ (Koran, 17:23-24).

 

An anderer Stelle sagte der Prophet Muhammed: „Gott hat ausdrücklich verboten, sich schlecht gegenüber den Eltern zu verhalten“ (Şeybani, Dschamiu´s Sagir) und „Wer (seinen) Kindern keine Zärtlichkeit erweist, älteren Menschen keine Ehre und Hochachtung zeigt gehört nicht zu uns (eurer Gemeinde)” (Tirmidhi, Birr, 15; Abu Dawud, Edeb, 58; Ahmed bin Hanbal, Musnad, B. 1, 257; Nawawi, B. 1, S. 387).

 

Der Islamgelehrte Said Nursi interpretiert diese Aussagen folgendermaßen, dass Kinder aufgefordert sind, „freundlich und milde zu ihren betagten Eltern zu sein. Ja, die höchste Wahrheit in dieser Welt ist die Barmherzigkeit der Eltern zu ihren Kindern. Und die erhabensten Rechte sind ihre Rechte auf Respekt als Vergütung für ihr Mitleid. Denn die Eltern opfern ihr Leben mit großer Freude und geben ihr Leben auf das Leben der Kinder. In diesem Falle: jedes Kind, das seine Menschlichkeit nicht verloren hat und nicht in ein Ungeheuer verwandelt wurde, ehrt diese geachteten, treuen, sich selbst aufopfernden Freunde, dient ihnen aufrichtig und versucht, ihnen Freude zu bereiten und sie glücklich zu machen. […] Das Werkzeug der Fülle und Gnade in deinem Heim und derjenige, der Unheil abweist sind jene betagten und blinden Verwandten, die du herabsetzest. […] Willst du die Gnade des Höchst Gnädigen Gottes, sei gnädig zu jenen in deinem Heim, die Gott dir anvertraut hat“ (Nursi, Die Briefe, S. 214).

 

Diese Gedankengänge führten in der Praxis dazu, dass Senioren eine bedeutende Rolle innerhalb der islamischen Gesellschaften genießen (Sahinöz, Leben und Arbeiten mit türkischen, arabischen und muslimischen Familien: Ein einfühlsamer Ratgeber, 2010).

 

Seniorenheime

Deshalb existierte in der Vergangenheit der Begriff des Altenheimes in der muslimischen Literatur nicht. Bis vor kurzem gab es in muslimisch-geprägten Ländern keine Seniorenheime. Auf Grund von Umstellungen im Alltag gibt es sie gegenwärtig vor allem in Großstädten. Es wird aber weiterhin verpönt, die eigenen Eltern oder Verwandte in einem Heim unterzubringen.

 

Theologisch betrachtet, sind die eigenen Kinder für die Versorgung der Eltern zuständig. Wenn diese es aus irgendwelchen Gründen nicht leisten können, sind es die nächsten Verwandten, die diese Verantwortung übernehmen. Wenn diese es auch nicht können, dann die Nachbarn, das Dorf usw. Erst in der allerletzten Instanz kommt der Staat oder Institutionen, die dann die Aufgabe der Versorgung sicherstellen.

Wer gilt als alt?

 

Wann jemand alt ist, wird häufig vom sozialkulturellen Kontext definiert. In Europa markiert vor allem die Berufsaufgabe, der Beginn der Rente, das Altwerden. In der Türkei ist das Rentenalter schon immer ein Diskussionsthema gewesen. 1992 lag das Rentenalter paradiesisch für Frauen bei 38 und bei Männern bei 42 Jahren. Häufig war es aber auch so, dass man sehr jung mit dem Arbeiten anfing. Meistens schon vor der Pubertät. 1999 wurde das Rentenalter für Frauen auf 58 und für Männer auf 60 erhöht. Seit 2008 liegt das Rentenalter einheitlich bei 65 Jahren.

 

Seniorenarbeit in Deutschland

Die Migranten, die als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, werden nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren. Sie bleiben hier in der neuen Heimat und werden hier zu Rentnern werden. Prognosen zufolge werden die ausländischen Senioren die voraussichtlich am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe in Deutschland werden (Forum Seniorenarbeit NRW, 2013). Daraus kann man schlussfolgern, dass Altern in Deutschland multikulturell wird.

Dies wiederum bedeutet, dass es in der Seniorenarbeit und in Altersheimen grundlegende Veränderungen geben wird. Man wird sich auf die Bedürfnisse der älteren Migranten anpassen. Also wird die Arbeit bedürfnisorientiert gestaltet werden müssen. Dabei sind einige Punkte zu beachten (Sahinöz, Leben und Arbeiten mit türkischen, arabischen und muslimischen Familien: Ein einfühlsamer Ratgeber, 2010).

 

Zunächst einmal sollte beachtet werden, dass Migranten über die bestehenden Angebote wenige Kenntnisse haben. Seniorenarbeit der verschiedenen Institutionen erreicht die Migranten nicht oder nur kaum. Zudem sind sie durch die bestehenden Strukturen nicht zu erreichen. In der Seniorenarbeit müssen daher neue Wege gesucht und genutzt werden, um Migranten zu erreichen.

 

Eine Möglichkeit, um sie zu erreichen und den Bedarf zu ermitteln ist eine “aufsuchende bedürfnisorientierte“ Migrations-Sozialarbeit. Sinnvoll ist auch eine Vernetzung der Senioren- und Migrationsarbeit. Bisher gibt es jedoch eine Trennung beider Bereiche. Die Migrationsfachdienste haben zu wenig Kenntnis über die Seniorenarbeit, so dass sie diese nur schwerlich in ihre Arbeit mit aufnehmen können. Die Seniorenarbeit wiederum ist nicht kultursensibel angelegt, so dass nicht auf die Bedürfnisse der Migranten eingegangen werden kann. Die Zukunft liegt jedoch in der Kombination dieser beiden Fachdienste (Forum Seniorenarbeit NRW, 2013).

 

Dr. Cemil Şahinöz

Islamisch Zeitung, 01.07.2020

Wenn Muslime alt werden


 

 

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(18.04.2020) Hygienemaßnahmen im Islam mit Blick auf ansteckende Krankheiten

Hygienemaßnahmen im Islam mit Blick auf ansteckende Krankheiten

Krankheiten und Vieren gibt es schon seit Anbeginn der Menschheit; und so werden sie auch immer ein Teil des Lebens sein. Die beste Prophylaxe dagegen ist – so banal es klingt – eine einfache Hygiene. Aus islam-theologischer Sicht macht es daher Sinn, zu schauen, wie der Islam mit Hygiene und speziell ansteckenden Krankheiten umgeht.

Im Islam wird Wert auf prophylaktische (vorbeugende) Maßnahmen gelegt. Dies sieht man schon im islamischen Prinzip, wonach bereits der Weg zu etwas Negativem abgelehnt wird, und nicht nur das Negative selbst.

Prophylaxe beinhaltet, dass der Mensch die göttlich gegebenen Naturgesetze auch einhält. Das bedeutet wiederum, dass es nicht reicht, nur ein religiöses Lippenbekenntnis für ein Ziel auszusprechen, sondern es auch ernsthaft zu verfolgen und die kausalen Wege dafür einzuhalten.

Der Prophet Muhammed hob die Bedeutung der Gesundheit hervor, in dem er sagte: „Es gibt zwei Gaben, deren Wert von den Menschen unterschätzt wird: zum einen die Gesundheit und zum anderen freie Zeit“ (Buhari, Rıkak: 1).

Dabei steht genauso wie die körperliche als auch die seelische Gesundheit im Vordergrund. Für alle islamischen Prinzipien gibt es immer eine Option, die dann eingeleitet wird, wenn die Gesundheit und das Leben des Menschen in Gefahr ist. Beispielsweise wird das Fasten ausgelassen wird, wenn man krank ist (Koran, 2:185). Im Notfall kann an, um ein zweites Beispiel zu nennen, auch bestimmte Lebensmittel verzehren, die sonst nicht erlaubt sind (Koran, 6:145).

In Bezug auf Hygienemaßnahmen sagte der Prophet Muhammed, dass die Hygiene, Sauberkeit und Reinigung die Hälfte der Religion ausmacht (Müslim, Tahara: 1; Tirmizi, Daawat: 86, Hanbal, Musnad: 4/260, 5/342-344, 363, 370, 372; Darimi, Wudu: 2). Hier wird deutlich, welchen Stellenwert die Hygiene einnimmt.

In einem anderen Hadith (Ausspruch) sagte der Prophet, dass Gott rein ist und das Reine liebt. Daher solle man seine Umgebung sauber halten (Tirmizi, Edeb: 41). Im Koran heißt es: „O ihr, die ihr glaubt! Wenn ihr zum Gebet aufsteht, wascht euer Gesicht und eure Hände bis zu den Ellbogen und wischt über euren Kopf, und (wascht) eure Füße bis zu den Knöcheln. Und falls ihr durch Samen befleckt seid, so reinigt euch.“ (Koran, 5:6).

Diese und ähnliche Denkweisen mündeten in einer festen Alltagspraxis in muslimischen Gemeinschaften. Der Prophet machte Anmerkungen über Hygienemaßnahmen in Zusammenhang mit Tieren oder mit Lebensmitteln (Buhari, Wudu: 33; Ebu Davud, Tahara: 37; Tirmizi, Tahara: 68). Auch hob er mehrmals die Wichtigkeit des Zähneputzens (Hanbal, Musnad: 1/214, 3/143; Buhari, Dschum´a: 8; Darimi, Wudu: 18), des Rasierens unter den Achseln und im Intimbereich, des regelmäßigen Schneidens der Fingernägel oder allgemein die Reinigung nach jedem Toilettengang hervor. Weiterhin betonte der Prophet das Händewaschen vor und nach jedem Essen, ja sogar nach jedem Aufstehen von einem Platz. Einmal in der Woche solle mal duschen (Müslim, Dschum´a: 9). Diese Aussagen tätigte er zu einer Zeit, in der Duschen und Baden verteufelt wurden oder Toiletten nur in wenigen Kulturen existierten. Die tägliche rituelle Waschung vor den Gebeten oder die Ganzkörperwaschung sind Hygienemaßnahmen, die täglich umgesetzt werden. Auch die Sauberkeit, was die Kleidung oder die Umgebung angeht, sind im Einklang mit der modernen Medizin.

Dabei ist das Händewaschen gar nicht so selbstverständlich, wie man vielleicht meinen würde. WIN/Gallup International führte im Jahre 2015 eine Studie zum Thema Hygienepraxis durch. In 63 Ländern wurde gefragt, ob man dort nach dem Toilettengang die Hände mit Seife wäscht. Hier kam es zu erstaunlichen Ergebnisse: Saudi-Arabien 97% (Platz 1), Bosnien 96% (Platz 2), Algerien, Libanon, Papua-Neuguinea und Türkei mit jeweils 94% (Platz 3), Kolumbien, Südafrika, Vietnam mit jeweils 93% (Platz 7), Panama 92% (Platz 10), Georgien 91% (Platz 11), Griechenland, Kosovo und Portugal mit jeweils 85% (Platz 13), Deutschland 78% (Platz 27), Vereinigtes Königreich 75% (Platz 34), Russland 63% (Platz 49), Frankreich 62% (Platz 50), Spanien 61% (Platz 52), Belgien 60% (Platz 53), Hong-Kong 58% (Platz 55), Italien 57% (Platz 57), Niederlande 50% (Platz 60), Südkorea 39% (Platz 61), Japan 30% (Platz 62) und China 23% (Platz 63).

Zur Zeit des Propheten Muhammed gab es selbstverständlich auch ansteckende Krankheiten. Hierzu äußerte sich der Prophet ebenfalls. In einem Hadith sagte er, dass man sich vor Infektionskrankheiten, wie z.B. Lepra, schützen soll, so wie vor einem Löwen (Buhari, Marda: 19; Hanbal, Musnad: 2/443). Dies zeigt die Vorsicht, mit der wir agieren sollen. Damit hob der Prophet hervor, dass man Infektionskrankheiten nicht auf die leichte Schulte nehmen sollte.

Des Weiteren wird empfohlen, dass man einen Abstand in der Höhe einer Lanze zu einer infizierten Person halten sollte (Hanbal, Musnad: 2/21). Eine durchschnittliche Lanze ist 2-3 Meter lang. Erstaunlich, dass der Prophet diese Maßnahme schon im 7. Jahrhundert empfahl.

In Zeiten, wo wir über Kontakteinschränkungen und Ausgangssperren diskutieren, findet man ebenfalls einen Ausspruch des Propheten von vor 1400 Jahren: „Wenn ihr hört, dass an einem Ort die Pest oder eine ansteckende Krankheit ausgebrochen ist, dann geht nicht dorthin. Wenn die Krankheit in euren Ort ist, dann verlasst ihn nicht.“ (Buhari, Tib, 19).

Diese und viele andere Aussagen des Propheten haben gegenwärtig eine noch wichtigere Bedeutung. Die Lebensweise des Propheten, der im Koran mit „du bist wahrlich von großartiger Wesensart“ (Koran, 68:4) beschrieben wird, wird für uns zu einem Vorbild in allen Lebenslagen.

IslamIQ, 18.04.2020

Hygiene im Islam mit Blick auf ansteckende Krankheiten

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(01.11.2019) 21 Jahre Misawa

21 Jahre Misawa

 

Vor 21 Jahren, am 1.11.1998 startete ich die Webseite Misawa, damals noch mit einer anderen Domain. Denn es war damals nicht selbstverständlich, dass man eine eigene Domain oder überhaupt eine Webseite hatte.

 

So hatten wir damals zu Hause keinen Internetanschluss. Die Webseite erstellte und aktualisierte ich in der Bibliothek der Universität. Nein, ich war damals kein Student, aber ein Freund hatte erzählt, dass man an der Uni das Internet nutzen konnte. Das war eine einmalige Gelegenheit. So begaben wir uns mit einigen Freunden an manchen Wochenenden für ein paar Stunden an die Uni und “recherchierten“ das Internet J

 

Schon recht schnell hatte ich die Idee und den Wunsch, eine eigene Homepage zu gestalten. Dies schien auch recht simpel zu sein. Hierzu erlernte ich die HTML-Sprache, mit der man Homepages erstellen konnte. Heutzutage braucht man das nicht mehr. Damals war es noch notwendig, die Webseiten selbst zu schreiben.

Zu Hause erstellte ich dann die Homepage und an den Wochenenden, an der Uni, lädt ich die Dateien hoch. Natürlich lädt ich nicht jedes Mal die ganze Homepage hoch, sondern nur die Dateien, die ich editiert hatte. Alle Dateien, die neu waren oder die ich editierte, packte ich in einen Ordner „Ins Internet“ und kopierte sie…. nein nicht auf den USB-Stick, das hatte damals noch keiner, sondern auf eine Diskette. Was eine Diskette ist? Einfach mal googlen J

 

Irgendwann hatten wir auch zu Hause einen Internetanschluss. Ein Modem mit 56K und legendären Soundgeräuschen bei der Einwahl ins Internet ersparten mir den Gang in die Uni.

 

Anfangs hatte die Homepage kein spezifisches Thema, sondern war gemischt mit Themen, die mich selbst interessierten. Ab April 2002 wurde es dann zu einer Webseite mit rein theologischen Themen. Zu dieser Zeit boomte die Seite, vor allem das Forum. Täglich kamen dutzende Forenbeiträge. Immer mehr Nutzer meldeten sich an und das Forum war innerhalb der muslimischen Community sehr bekannt.

Misawa 23.08.1999

Misawa 21.08.2000

Misawa 07.12.2000

Misawa 28.01.2001

Misawa 19.07.2007

Misawa 17.10.2019

 

Aktuell gibt es im Misawa-Forum über 16.000 Themen, knapp 202.000 Beiträge und fast 2.500 Benutzer. Die Aktivität im Forum hat aber in den letzten Jahren stark nachgelassen. Es wird nicht mehr in Foren geschrieben oder diskutiert, sondern viel lieber auf sozialen Netzwerken, wo ich aber keine zielführenden Diskussionen sehe. Im Misawa-Forum gab es immer anspruchsvolle Diskussionen, die viel zum gegenseitigen Verständnis führten. Dies zeigen auch Studien, in denen das Misawa-Forum untersucht wurde.

 

2008 wurden in einer Forschungsarbeit für den Lehrstuhl für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina 42 Islam-Foren untersucht. Das Endergebnis war eindeutig. Das Misawa-Forum schnitt vor allem in den Bereichen “Offenheit”, “Dialog”, “Meinungsfreiheit” und “Demokratisch” am besten ab. 2012 führte das Bundesministerium des Inneren die bekannte Studie “Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ durch. Auch hier gab es nur positive Worte zum Forum. Auch im Jahre 2012 gab es eine Studie der Maryland Universität in den USA. Hier wurde speziell die Webseite Misawa insgesamt erfasst und ihr Einfluss unter den muslimischen Bloggern dargestellt. Auch in einer Studie, welches 2013 an der Universität Bremen, Institut für Religionswissenschaft und Religionspädagogik, durchgeführt wurde, war das Misawa-Forum Bestandteil.

 

In allen untersuchten Arbeiten gab es nur positive Ergebnisse für das Misawa-Forum. Dieses Lob gebührt allen Teilnehmern des Forums, den Mitgliedern, den Admins und den Moderatoren.

 

Ab Juli 2008 hörte ich dann mit der HTML-Programmierung auf. Ich wechselte dann auf eine Blogseite, die mir unheimlich viel Zeit sparte. Denn HTML war schon gut und man konnte alles so gestalten, wie man es wollte, aber es nahm eben auch viel Zeit in Anspruch. Der Umstieg auf eine vorgefertigte Blogseite war daher sehr nützlich.

 

Das Misawa-Netzwerk wurde auch immer größer. Hinzu kamen neue Webseiten, neue Projekte. Die Ayasofya Zeitschrift, Hörbücher, die Android App, der Podcast Misawa Talk, das Videoportal Misawa TV, My Halal Check und viele weitere.

 

Immer wieder werde ich noch heute gefragt, was denn eigentlich Misawa bedeutet. Im Forum wurde diese Frage in einem Thread über 1000mal gestellt. Für unser Videoportal Misawa TV hat ein Freund aus China mehrere Videos gedreht und (auf Grund der Annahme, dass Misawa etwas chinesisches bedeute), viele Chinesen gefragt, was Misawa bedeutet. Keiner der Chinesen konnte diese Frage beantworten. Vielleicht ist jetzt, nach 20 Jahren, die Zeit gekommen, um das Rätsel zu lösen. Was heißt eigentlich Misawa? Vielleicht warte ich aber noch weitere 20 Jahre…. Wie gut, dass keiner weißt, was Misawa heißt.

 

Dr. Cemil Sahinöz

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(06.01.2019) Seelsorge ohne Einzelgespräche ist nur Teil-Seelsorge. Defizite in der Gefängnisseelsorge

Seelsorge ohne Einzelgespräche ist nur Teil-Seelsorge

Defizite in der Gefängnisseelsorge

 

 

Die Gefängnisseelsorge ist in Deutschland gesetzlich geregelt. Laut StVollG §53 hat jeder Inhaftierte Anspruch auf eine Seelsorge, darin heißt es: „Dem Gefangenen darf religiöse Betreuung durch einen Seelsorger seiner Religionsgemeinschaft nicht versagt werden. Auf seinen Wunsch ist ihm zu helfen, mit einem Seelsorger seiner Religionsgemeinschaft in Verbindung zu treten.“ Auf Grund dieses Paragraphen können juristisch anerkannte Religionsgemeinschaften Seelsorger in die Justizvollzugsanstalten senden. Dabei sind die Justizvollzugsanstalten für die Rahmenbedingungen, wie z.B. räumliche Ressourcen, zuständig, und die Religionsgemeinschaften regeln den Inhalt der Seelsorge oder des Gottesdienstes in der Justizvollzugsanstalt.

Da der Islam jedoch keine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, sprich keine juristisch anerkannte Religionsgemeinschaft, war es Muslimen lange Jahre verwehrt Gefängnisseelsorge ähnlich wie die christlichen Gemeinschaften anzubieten. Zudem gab es keine ausgebildeten muslimischen Gefängnisseelsorger, so dass muslimische Inhaftierte Seelsorgeangebote aus den Reihen ihrer eigenen Religion nicht wahrnehmen konnten.

 

Dass ein Bedarf für ein seelsorgerisches Gespräch auch unter muslimischen Inhaftierten herrscht, war aber nie ein Diskussionsthema. Schon die Deutsche Bischofskonferenz ermittelte diesen Bedarf im Jahre 2003. So gibt es in vielen Gefängnissen Deutschlands Angebote an muslimischer Gefängnisseelsorge. Anfang 2018 gab es bundesweit ca. 110 Imame, die als Seelsorger tätig waren. Dass Fehlen der juristischen Anerkennung wurde durch pragmatische Lösungen überbrückt.

 

Historisch geht die muslimische Gefängnisseelsorge auf die DITIB-Imame zurück. Seit den 90´ern besuchen die Imame türkische Inhaftierte. Bei diesen Besuchen wurden jedoch vielerorts keine Einzel- oder seelsorgerischen Gespräche geführt, sondern meist in Gruppengesprächen Verwaltungsangelegenheiten für türkische Staatsbürger, wie z.B. Aufenthaltsrecht, Abschiebung, Staatsangehörigkeit geklärt. Auch das Freitagsgebot wurde in vielen Gefängnissen durch die Imame durchgeführt.

 

Mit Laufe der Zeit wandelte sich diese Praxis in eine Art Seelsorge für muslimische Inhaftierte, obwohl die Imame keine Seelsorgekompetenzen hatten. Und auch andere muslimische Gemeinden, außerhalb der DITIB, machten ähnliche Gefängnisbesuche, in denen Imame oder meist ehrenamtlich engagierte Personen den Inhaftierten religiöse Unterweisung erteilten.

 

Trotzdessen muss erwähnt werden, dass auch in der Gegenwart nur bei den wenigsten Angeboten eine individuelle Seelsorge stattfindet. Vielmehr beschränken sich die Angebote auf Gruppengespräche und religiöse Rituale, wie z.B. gemeinsame Koranlesungen und Freitagsgebete, und sind eher zu vergleichen mit der Tätigkeit von Sozialarbeitern als mit Seelsorgern. Selbstverständlich sind auch Rituale wichtig und ein Bestandteil der Seelsorge, sie können jedoch eine individuelle Seelsorge nicht ersetzen. Ein individuelles und persönliches Seelsorgespräch ist jedoch das zentrale Anliegen einer Seelsorge. Das Fehlen solcher individuellen Seelsorgegespräche ist daher ein großes Defizit. Denn der Bedarf nach einer muslimischen Seelsorge wird damit nicht tatsächlich gedeckt.

 

Das Fehlen von Einzelgesprächen hat auch etwas mit fehlenden Ressourcen zu tun. Denn in der Praxis gibt es große Unterschiede in der Umsetzung der muslimischen Gefängnisseelsorge. Den meisten muslimischen Gefängnisseelsorgern stehen keine Räumlichkeiten für Einzelseelsorge zur Verfügung. Sie können nur Gemeinschaftsräume nutzen. Auch die ehrenamtliche und zeitliche Begrenzung der Angebote erschwert den Einsatz von Einzelgesprächen. Einige muslimische Seelsorge kommen nur durch starke Kontrollen ins Haus, wiederum andere nur, wenn sie ein christlicher Seelsorger begleitet. Dann gibt es Seelsorger, die Räumlichkeiten, ein eigenes Büro, Schlüssel zur Verfügung haben und ohne aufwendige Sicherheitskontrollen ins Gefängnis kommen. Dieser Umgang lässt eine angemessene Seelsorge zu. Daher müssen Ressourcen und Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit eine würdige Gefängnisseelsorge mit Einzelgesprächen stattfinden kann.

 

Hinzu kommt, dass muslimische Seelsorger zwar bei ihren Einsätzen eine Schweigepflicht haben, jedoch kein Zeugnisverweigerungsrecht. Daher gilt hier das Beicht- oder Seelsorgegeheimnis nicht. Auf Grund des Fehlens des Zeugnisverweigerungsrechts ist es nicht immer gegeben, dass die Klienten dem Seelsorger vollständig vertrauen, was z.B. in der Gefängnisseelsorge besonders wichtig ist, da hier Themen angesprochen werden können, deren Inhalte der Seelsorger aus Sicht des Klienten keineswegs weitergeben darf.

 

Die Finanzierungsfrage der muslimischen Gefängnisseelsorge wird ebenfalls unterschiedlich gelöst. An einigen wenigen Orten wird die muslimische Gefängnisseelsorge staatlich finanziert, jedoch sind die meisten Angebote und Tätigkeiten ehrenamtlich organisiert. Auf Dauer ist eine ehrenamtliche Tätigkeit jedoch nicht zu leisten. Der Bedarf ist hierfür viel zu groß. Vielmehr sollten Ehrenamtliche als Ergänzung zu hauptamtlichen muslimischen Gefängnisseelsorgern eingesetzt werden.

 

Verstärkt seit einigen Jahren wird die Gefängnisseelsorge (in Deutschland aber auch in anderen europäischen Ländern) auch im Kontext der Radikalisierung diskutiert. Dabei geht es einerseits um Gefängnisseel­sorger, die Inhaftierte in ihrem Denken radikalisieren, andererseits um Gefängnisseelsorger, die schon radikalisierte Inhaftierte deradikalisieren und alle Inhaftierten resozialisieren. Auch gebe es aus der radikalen Szene Personen, die sich für Inhaftierte nach ihrer Entlassung als Gefangenenunterstützer anbieten. Kritisiert wird jedoch an diesem Verständnis von Seelsorge, dass Seelsorge keine Präventionsarbeit als Ziel haben darf, da so die Glaubwürdigkeit des Seelsorgers vom Klienten in Frage gestellt werden kann. Deradikalisierung kann nur ein Aspekt oder einer der Ergebnisse der Gefängnisseelsorge sein. Präventionsarbeit wäre demnach ein Teilaspekt und sollte nicht zum zentralen Ziel der Gefängnisseelsorge gemacht werden, da sie dadurch den Charakter der Seelsorge verliert. Daher darf die muslimische Gefängnisseelsorge nicht als Instrument oder Alternative der Radikalisierungsprävention verstanden werden und der Fokus nicht auf die Deradikalisierungsarbeit fallen.

 

Insgesamt fällt es also auf, dass viele Angebote, die das Label “Islamische Gefängnisseelsorge“ tragen, sich voneinander unterscheiden und vor allem gar keine Einzelgespräche anbieten, welches wie bereits erwähnt, der Kern der Seelsorge ist und nicht vernachlässigt werden darf. Daher ist eine Standardisierung, was Seelsorge ist und was nicht, gerade in der Entstehungsphase der islamischen Seelsorge so wichtig.

 

 

Dr. Cemil Şahinöz

 

Islamische Zeitung, 06.01.2019

https://www.islamische-zeitung.de/spirituelle-hilfe-braucht-standardisierung/

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(01.01.2019) Moschee-Steuer – Juristisch, Politisch und Theologisch

Moschee-Steuer – Juristisch, Politisch und Theologisch

 

Die Frage der Finanzierung von Moscheegemeinden ist nicht neu. Sie wird mindestens einem Jahrzehnt diskutiert. Volle Fahrt haben die Diskussionen aufgrund der angespannten Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei genommen.

 

Aufseiten der Politik in Deutschland wird das Ziel verfolgt, Auslandsfinanzierungen und damit indirekt Einflüsse von ausländischen Staaten zu verhindern. Daher wird nach Lösungen und Optionen gesucht. Der Vorschlag, eine Moschee-Steuer analog zur Kirchensteuer einzuziehen, ist aber weder juristisch noch theologisch möglich. Deshalb werden die gegenwärtigen Diskussionen nur in eine Sackgasse führen.

 

Ohne Anerkennung keine Steuer

 

Juristisch ist es nicht möglich, da islamische Religionsgemeinschaften keine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist. Dies ist aber eine Voraussetzung, um eine solche Steuer überhaupt erheben zu können. Zunächst müsste also diese Frage geklärt werden. Die islamischen Religionsgemeinschaften erhalten gegenwärtig die Anerkennung als Körperschaft nicht, da sie Kriterien, wie z.B. Mitgliedsstrukturen, nicht erfüllen sollen.

 

Der Islam ist keine Kirche

 

Damit sind wir auch schon bei der theologischen Problemstellung. Eine Moschee-Steuer entspricht dem Selbstverständnis des Islams nicht. Denn der Islam kennt keine Institutionen oder Mitgliedsstrukturen wie die Kirchen. Dass heißt z.B., ein Eintritt zur oder Austritt aus der Religion wie in der Kirche ist im Islam nicht an die Institution Moschee gebunden. Man ist nirgends als Muslime registriert. Wie sollte man dann die Muslime, die diese Steuern zahlen sollen, erfassen?

 

Da kann man sich auch nicht an die Mitgliederlisten in den Moscheegemeinden orientieren. Denn man kann als Muslim in keiner einzigen Moschee Mitglied sein, oder auch in 10 verschiedenen gleichzeitig. Die Mitgliederzahlen sagen also nicht viel aus. Hier herrschen andere Strukturen als in der Kirche. Es gibt theologisch ein anderes Verständnis.

 

Gleichstellung notwendig

 

Was die muslimische Community bei all den Diskussionen kritisiert, ist auch der Wunsch nach Augenhöhe und Gleichbehandlung. Denn es ist bekannt, dass z.B. Kirchen und kirchliche Einrichtungen im Ausland von Deutschland aus finanziert werden. Gleichzeitig gibt es in Deutschland einige Religionsgemeinschaft, die, ähnlich wie bei den muslimischen Gemeinden, vom dem Ausland finanziert werden, und auch ihre Geistlichen aus dem Ausland holen. Hier fehlt eine Klarstellung, dass der Verbot von Auslandsfinanzierung nicht nur die Muslime betreffen darf und es damit keine benachteiligende Sonderregelung für Muslime geben kann. Denn grundsätzlich regeln die Religionsgemeinschaften die Ausbildung ihrer Geistlichen und die Finanzierung ihrer Gemeinschaften selbst.

 

Was sind die Alternativen?

 

Das Thema, wie sich Moscheegemeinden finanzieren könnten, ist seit vielen Jahren auch innerhalb der muslimischen Community ein Thema. Die Frage geht parallel mit der Fragestellung, ob man Imame, die in Deutschland geboren, hier sozialisiert und hier ausgebildet sind, in Moscheegemeinden einsetzen kann.

 

Da muss man realistisch sein, selbst wenn man eine Moscheesteuer einführen würde, und auf Imame aus dem Ausland nicht mehr angewiesen wäre, hätte man trotzdem nicht einmal ansatzweise genügend Imame für die Moscheen in Deutschland. Es gibt ca. 2000 Moscheen in Deutschland, ca. 1000 beziehen ihre Imame aus dem Ausland. Islamische Theologie kann man seit knapp 10 Jahren in Deutschland studieren. Bis man also so viele Imame hat, die hier Theologie studiert haben und dann auch tatsächlich in den Moscheegemeinden tätig sind, wird es wohl noch lange dauern. Aber das ist ein Ziel, dass viele muslimische Gemeinden verfolgen.

 

Optionsvorschläge für Finanzierungen, die in der muslimischen Community seit längerem diskutiert werden, sind die Gründung von Stiftungen, die es historisch in muslimischen Gemeinschaften immer wieder gab und die Zakat-Abgabe. Während bei Stiftungen es zumindest keine theologischen Schwierigkeiten geben würde, steht jedoch die Frage im Raum, ob die Ressourcen der muslimischen Community in Deutschland es zu lassen, auf diese Art und Weise hunderte von Moscheen zu finanzieren.

 

Bei der Zakat-Abgabe (2,5% des überschüssigen Gesamtvermögens spendet ein jeder Muslim jedes Jahr) gibt es wiederum eine große theologische Diskussion darüber, ob Zakat auch an Einrichtungen und nicht nur an bedürftige Einzelpersonen gespendet werden kann. Man nehme an, Moscheen würden durch die Zakat finanziert werden. Dann müsste man sich soziologisch darauf gefasst machen, dass evtl. in einigen Jahrzehnten Zakat sich inhaltlich wandelt und tatsächlich nur noch Einrichtungen wie Moscheen damit finanziert werden. Bedürftige wären dann sekundär. Man hätte eine andere Qualität von Zakat. Dies ist eine theologische Fragestellung, die noch nicht abschließend geklärt ist.

 

Dr. Cemil Şahinöz, IslamIQ, 01.01.2019

http://www.islamiq.de/2019/01/01/von-auslandsfinanzierung-bis-zakat-fragen-der-finanzierung-von-moscheen/

Islamische Zeitung, 01.1.2019
https://www.islamische-zeitung.de/moschee-steuer-juristisch-politisch-und-theologisch/

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(20.11.2018) Theaterprojekt „Zwischenräume“

Interkulturalität

Grußwort

Eine türkische Familie zog in eine neue Wohnung ein, in direkter Nachbarschaft zu einer deutschen Familie. Die türkische Familie backte einen Kuchen und wartete darauf, dass die Nachbarn sie besuchen und sie willkommen heißen. So kannten sie es aus ihrer eigenen Tradition. Die deutsche Familie backte ebenfalls einen Kuchen, denn es ist bei ihnen üblich, dass die neuen Nachbarn vorbeikommen und sich vorstellen. Beide Familien blieben mit ihrem Kuchen allein.

Doch leider blieben sie nicht nur mit ihrem Kuchen alleine sondern öfters auch mit ihren Vorurteilen. Denn es sind solche kleinen Missverständnisse und das Unbekannte, die zu Vorurteilen führen können. Die türkische Familie könnte die deutsche Familie mit Diskriminierung und Ausgrenzung beschuldigen. Die deutsche Familie könnte davon ausgehen, dass die türkische Familie sich ausgrenzt und eine Parallelgesellschaft mitten in der Nachbarschaft bildet. Hätten aber beide Familien die Information darüber, wie sich alte und neue Nachbarn in der jeweiligen Kultur verhalten, käme es nicht zu diesen Vorurteilen.

Unkenntnis führt also zu Unsicherheit, und dies zu Distanz. Wenn Distanz langfristig anhält, entstehen Ängste. Daher ist es von großer Bedeutung, das Unbekannte zum Bekannten zu machen, bevor Ängste entstehen. Nur so kann ein friedliches Miteinander gelingen. Nur so kann Integration funktionieren. Integration ist aber kein Zustand und hat auch keinen Endpunkt. Es ist eher ein ständiger Prozess.

In diesem Prozess darf das vermeintlich Fremdartige nicht als etwas Negatives bewertet werden. Das geht nur, wenn man sich kennenlernt. Hierzu sagte Ali, der Schwiegersohn des Propheten Muhammed: „Der Mensch mag das nicht, was er nicht kennt.“ Wenn man sich kennt, merkt man, wie ähnlich man eigentlich ist. Somit verschwindet das Fremde. Anstelle dieser kommt Freundschaft hervor.

Und dieses Kennenlernen sollte nicht nur künstlich auf bestimmten Veranstaltungen stattfinden, sondern im Alltag, in der Schule, auf dem Arbeitsplatz, im Supermarkt, im Kino gelebt werden. Nur so können Ängste tatsächlich abgebaut werden.

Jeder von uns hat im Alltag die Möglichkeit, dieses Kennenlernen, diesen Austausch zu fördern. So haben wir öfters Begegnungen wie im Kuchenbespiel. Wenn wir dabei Menschen offener, sensibler und mit positiver Neugier begegnen, können wir den interkulturellen Austausch und den Dialog fördern.

Als ein positives Beispiel, den Dialog zu fördern, kann das Zwischenräume-Projekt des Theaterlabors genannt werden. Als das Theaterlabor mit dem Projekt auf das Bündnis Islamischer Gemeinden zukam, war es für uns keine Frage des Ob, sondern wie wir unseren Anteil einbringen können. Denn in den Bereichen wie Theater und Kunst finden Begegnungen nur selten statt. Obwohl gerade in diesen Bereichen die Dialogpotenziale und die nachhaltigen Effekte immens sein können. Daher war es uns eine große Freude ein Teil dieses erfolgreichen Projekts zu sein.

Dr. Cemil Şahinöz
Vorsitzender des Bündnis Islamischer Gemeinden

Theaterprojekt „Zwischenräume“ – Broschüre
https://drive.google.com/file/d/161f8J4OyQXYL-iSWloDArUEkXOcDhSek/view?usp=sharing

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(07.11.2018) Gülen-Bewegung: Dialog zwischen Integrationsarbeit und Sektenwahn

Gülen-Bewegung: Dialog zwischen Integrationsarbeit und Sektenwahn

 

Umut Ali Öksüz, Dr. Cemil Şahinöz

 

Der Begriff Sekte ist ursprünglich ein christlich konnotierter Begriff und ist auf Grund des charakteristischen Typus des Christentums auf diesen anwendbar. Einen vergleichbaren Begriff gibt es in anderen Religionen nicht. Inhaltlich betrachtet gibt es jedoch auch in anderen Religionen Sekten, bzw. Gruppen, die die gleichen Kriterien erfüllen. So soll in diesem Artikel geschaut werden, ob die religionssoziologischen Kriterien für eine Sekte auf die Gülen Bewegung zutreffen.

 

Definition und Kriterien

 

Max Webers “Soziologische Grundbegriffe“ endet mit einem Vergleich von Kirche und Sekten. Demnach wird man in die Kirche „hineingeboren“, wohin eine Sekte „nur die religiös Qualifizierten persönlich in sich aufnimmt“. Er verweist dabei auf Kriterien der Religionssoziologie, in der der Begriff Sekte, den es schon seit der Antike gibt, inhaltlich entwickelt wurde.

 

Unabhängig davon, dass es einige unterschiedliche Definitionen vom Sektenbegriff gibt, gibt es auch minimale Kriterien von Sekten, die die unterschiedlichen Definitionen gemeinsam haben. Laut Frank-Xaver Kaufmann sind das Kriterien wie Gemeinschaftscharakter, freiwillige Mitgliedschaft, allgemeines Priestertum und eine klare und scharfe Abgrenzung „mit Hilfe der eigenen, meist radikal-religiösen Auffassungen gegen die vorherrschende Kultur“. Im Allgemeinen haben sich Sekten von der Urreligion abgespalten und befinden sich im Konflikt und überwiegend auch in einer Konkurrenzbeziehung zu ihr.

 

Ähnlich wie Radikale und extreme Gruppen, bieten Sekten ein vereinfachtes, dichotomisiertes Weltbild. Die Welt ist aufgeteilt in „die Guten“ und „die Bösen“. Die Guten, das sind die Mitglieder der Sekte, versuchen die Welt zu verbessern. Die Bösen, alle außerhalb der Sekte, sind verblendet und sehen die Wahrheit nicht.

 

Diese Guten sehen sich durch die Zugehörigkeit als eine auserwählte Elitegruppe, die es geschafft hat. Sie gehören zu denjenigen, die letztendlich als Sieger hervortreten werden, auch wenn sie ggf. gegenwärtig angefeindet werden würden. Daher haben die Mitglieder auch meistens immer die gleiche Meinung zu unterschiedlichen Themen, so dass sie gleichgeschaltet wirken. Auch wirken Argumente zu Diskussionsthemen auswendiggelernt, da sie innerhalb der Gruppe immer wieder thematisiert werden und die einzigen akzeptierten, legitimen Meinungen sind.

 

In Sekten gibt es unter den Mitgliedern daher einen großen sozialen Druck, um weiterhin als Elite bestehen zu können. Alle Mitglieder kontrollieren sich gegenseitig und versuchen die meist irrationalen Gesetzlichkeiten innerhalb der Gemeinschaft durchzusetzen.

 

Diese Gesetze und Regeln führen zu einer Komplexitätsreduzierung. Der moderne Alltag ist viel zu komplex und macht Entscheidungen schwierig. Sekten vereinfachen dies, in dem sie ein einfaches Model anbieten. Damit wird sie attraktiv für viele Menschen, vor allem für Personen, die eine Konfliktbiographie hatten.

 

Menschen mit einer schwierigen Vergangenheit haben in Sekten die Möglichkeit, Sinn und Orientierung zu finden. Sie finden und bekommen eine Wertschätzung und Geborgenheit, die sie von ihrem Umfeld, z.B. von ihrer Familien, sonst nicht erhalten hatten.

 

Daher kommt es häufig vor, dass Sektenmitglieder von ihren Familien, die nicht auch Sektenmitglieder sind, getrennt werden und jeglicher Kontakt untersagt wird. Nur so kann eine erfolgreiche Indoktrination funktionieren.

 

Um die ideologische Indoktrination zu perfektionieren, wird meistens auch jeglicher Kontakt mit Außenstehenden reduziert. Auf diese Art und Weise werden besonders Kinder und Jugendliche mit dem Gedankengut der Sekte sozialisiert. Diese Generationen sind es dann, die viel stärker an die Sekte gebunden sind, als z.B. Erwachsene, die in älteren Jahren zur Sekte gestoßen sind. Die in der Sekte sozialisierten und groß gewordenen Mitglieder sind dann materiell und immateriell an die Sekte gebunden und abhängig von ihr. Eine Trennung ist meist mit viel Kraft, Trauma und psychischen Störungen verbunden.

 

Sekten können ohne eine Zentral, ohne einen Führer nicht funktionieren. Der Führer ist jedoch kein gewöhnlicher Geistlicher, sondern jemand mit “Sonderfunktionen“, die direkt von Gott (!) bereit gestellt werden. So wird der Sektenführer zu einem heiligen, unantastbaren Halbgott, der auf keine Art und Weise kritisiert werden darf.

 

Sekten, die eine bestimmte Mitgliedergröße erreichen, verwandeln sich in modernen Gesellschaften auch zunehmend in Wirtschaftsunternehmen und große Organisationen, die primär Angebote für ihre eigenen Mitglieder generieren aber auch „Öffentlichkeitsarbeit“ leisten, um das Image der Sekte zu verbessern und zu Missionieren.

 

Vergleich mit der Gülen-Bewegung

 

Sektenähnliche Strukturen fangen bereits im Kindesalter mit ihrer Indoktrination an. Durch verschiedene Angebote werden Kinder und Jugendliche in differenzierten Stufen in eine ideologisierte Elite heranerzogen und leben die Lehren ihrer Meister weiter. Eine der bekanntesten und umstrittensten Bewegungen in Deutschland, die eine große Sektenähnlichkeit besitzt, ist die Gülen-Bewegung, auch bekannt als Hizmet-Bewegung.

 

Die Gülen-Bewegung ist seit über 30 Jahren in Deutschland verhüllt aktiv, seit ca. fünf Jahren gibt es erste öffentliche Sprecher oder Einrichtungen für Anlaufstellen.

 

Das Netzwerk der Bewegung ist weltweit bekannt und steuert diverse pädagogische und soziale Einrichtungen sowie Projekte im interreligiösen Bereich. Seit dem Putschversuch in der Türkei 2016 ist die Gülen Bewegung in Deutschland in aller Munde. Das äußere Auftreten der Bewegung symbolisiert wichtige Fundamente, die für ein gemeinsames Miteinander unverzichtbar sind. Integrationsbereitschaft, Dialog, Bildung und Toleranz – alles Schlüsselbegriffe, die von einer verdeckten Indoktrination lenken sollen. Viele Kritiker in Deutschland werfen der Bewegung seit Jahren vor, sektenähnliche Methoden zu verwenden.

 

Aktuell spricht die Bundesregierung von einer Neubewertung der Bewegung, es liegen interne Berichte der deutschen Botschaft aus Ankara vor, die eine Sektenähnlichkeit nochmals unterstreicht. Wenn Strukturen und Merkmale einer funktionierenden Sekte mit der Gülen Bewegung verglichen werden, dann sind deutliche Gemeinsamkeiten erkennbar.

 

Jede Sekte hat einen Meister und strikte hierarchische Strukturen. Der Meister Fethullah Gülen gibt sämtliche Regeln und Lebenspraktiken vor und unterrichtet konstant seine Anhänger mit Inhalten, die direkten Eingriff in das Leben bzw. Privatleben eindringen. Dies berichten u.a. etliche Aussteiger und hochrangige Vertreter. In Sekten ist es üblich, dass der Führer einer Gruppierung niemals kritisiert oder hinterfragt wird. Es gibt kaum kritische Äußerungen oder Publikationen von der Bewegung, die Fethullah Gülen in Frage stellen. Zudem gibt es in der Gruppe ein Weltbild von „gut“ und „böse“. Alle, die der Bewegung folgen, alle Sympathisanten, alle, die nichts hinterfragend von der Bewegung annehmen, alle Förderer und vor allem – alle Anhänger sind die Guten. Auch die Gülen-Bewegung braucht immer ein Feindbild innerhalb ihrer Dichte. Durch die aktuellen Vorkommnisse wird der alte Freund und Partner, die AKP-Regierung als das „Schlechte“ in der Bewegung kommuniziert. Für sektenähnliche Strukturen sind diese schwarz-weiß Gedanken von großer Bedeutung, um die eigene Elite immer in den Mittelpunkt zu rücken. Deshalb setzen sich die Mitglieder einer Sekte gegenseitig unter Druck und kontrollieren sich und ihre Handlungen. In der Hizmet-Bewegung hat jedes Mitglied einen Mentor bzw. einen sog. „Agabey“, übers. großer Bruder.

 

Schon ganz früh werden Kinder und Jugendliche durch die Bildungsarbeit in den sog. Lichthäusern manipuliert. Nachhilfeangebote oder künstlerische Projekte dienen einer direkten Rekrutierung in die Lichthäuser.

 

Die Mentoren kontrollieren die Mitglieder, für die sie selbst verantwortlich sind und stehen gleichzeitig selbst unter Beobachtung.

 

Diese Kontrollen setzen in der Bewegung den Schwerpunkt auf die religiösen oder politischen „Hausaufgaben“:

  • Wie lange war man draußen?
  • Mit wem war man unterwegs?
  • War man diese Woche im Lichthaus? Wenn nein, wieso nicht?
  • Haben die eigenen Eltern, Freunde, Verwandte o.ä. ein Zaman-Abo? (In Deutschland wird diese Zeitung nicht mehr gedruckt. Die Bewegung arbeitet derzeit an neuen medialen Projekten.)
  • Wurde eine bestimmte Anzahl von Seiten aus Fethullah Gülens Büchern gelesen?
  • Befolgt man die eigene religiöse Ideologie?
  • Wurden bestimmte Artikel geteilt und verbreitet, mit Inhalten aus der türkischen Politik?
  • Wurden bestimmte Nachrichtensender, die kritische Beiträge über die Bewegung bringen, sabotiert?
  • Ist man bereit für die Bewegung zu opfern?

 

Das sind nur Beispiele für Fragen bzw. Anweisungen, mit denen sich die Anhänger gegenseitig ausspionieren. Religion wird als emotionales Machtinstrument genutzt, denn ein Widersprechen der Anweisungen durch die Mentoren, wäre ein Widerspruch zum Meister und obligatorisch zu Gott. Soziale Probleme und das Gefühl ausgeschlossen zu sein, schenkt Sekten genug Spielraum, damit sie neue Kumpanen dazu gewinnen. In der Gülen-Bewegung geht es vor allem auch um die „verlorene Religiosität“ und um ein verlorenes Leben im Jenseits. Daher fühlen sich die Sympathisanten der Hizmet-Bewegung gezwungen, auch einen finanziellen Dienst zu leisten und spenden Unmengen an Geld in ihre Ideologie. Oder sie verkauften in der Vergangenheit ihre Zaman-Zeitung in Massen, um die Gedanken des Meisters weiterzuverbreiten. Die Gülen-Bewegung nennt sich selbst eine soziale Strömung.

Sie sagt von sich selbst, dass sie im Dienste Gottes, im Dienste des Ehrenamtes und der Bildung unterwegs sei. Es gibt wenig soziale und ehrenamtliche Gruppen in Deutschland, die Millionen von Euros besitzen und diese in kritische PR-Agenturen wie Burson Marsteller investieren können.

 

Im Rahmen einer „sozialen Bewegung“ sind wirtschaftliche Hilfsmittel, die überwiegend durch die eigenen Mitglieder privat „gespendet“ werden,  in dieser Höhe und für eine solche Maßnahme nur in festen sektenähnlichen Strukturen möglich.

 

 

Informationen zu den Autoren:

 

Umut Ali Öksüz, geboren in Neuss, ist aktiv als Lehrer, Pädagoge, Kinderschutzfachkraft §8a SGBVIII und Blogger. Er ist Autor im Handbuch »Bildungsbrücken bauen – Stärkung der Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund«. Seit über zehn Jahren, 2008, arbeitet er mit Kindern, Jugendlichen und Eltern zusammen. Er ist Referent für die Themen: Bildungschancen, Interkulturelle Bildung, Subkulturen innerhalb der Deutsch-Türkischen Community. Persönlicher Kontakt: info@umutalioeksuez.de. Weitere Informationen: http://www.umutalioeksuez.de

 

Dr. Cemil Şahinöz, Soziologie, Theologe und Religionspsychologe, ist Hauptberuflich als Integrationsbeauftragter und Familienberater tätig. Er hat mehrere Bücher verfasst und analysiert die Gülen Bewegung seit mehr als 10 Jahren.

 

 

Huffington Post, 07.11.2018

https://www.huffingtonpost.de/entry/gulen-bewegung-dialog-zwischen-integrationsarbeit-und-sektenwahn_de_5be2e416e4b0769d24c7b5f3?5r9

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(08.09.2018) Sarrazins feindliche Übernahme des Verstandes

Sarrazins feindliche Übernahme des Verstandes

Thilo Sarrazin. Ein Mann, der es sich auf die Fahne geschrieben hat, den Islam und die Muslime zu diffamieren. Sein zweites Buch trägt den Titel: „Feindliche Übernahme – wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“. Cemil Şahinöz hat das Buch gelesen und sich eine Meinung gebildet.

Der ursprüngliche Verlag wollte das Buch von Thilo Sarrazin nicht drucken. Zu Recht. Dies ist keine Zensur. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Doch Rassismus und Faschismus sind keine Meinung. Sie sind menschenverachtend und Gift für die Gesellschaft. Hass und Feindschaft sind das Ergebnis von Rassismus. Ein friedliches, gemeinsames Miteinander ist dann nicht mehr möglich.

Auf diese Art und Weise liest sich leider das Buch von Sarrazin. In jedem Kapitel spürt man einen puren Hass, ein narzisstisches Hochmut. Die “entwickelten Sarrazins“ auf der einen Seite und die “unterentwickelten Muslime“ auf der anderen Seite. So wie man es sozialdarwinistisch von Sarrazin aus vergangenen Büchern kennt. Die einen sind auf der Evolutionsleiter vorangeschritten, die anderen nicht. Der nächste Schritt wäre, dass man die, die nicht vorangeschritten sind, “einfach ´mal so“ auslöscht, damit die weitere Evolution nicht aufgehalten wird. So kennt man es z.B. aus Briefen von Darwin.

Sarrazin geht nicht so weit. Er ist erst dabei zu erklären, dass Muslime auf der Evolutionsleiter ganz unten sind. So wird auf jeder Seite klischeehaft, vorurteilhaft, ohne jegliche sachliche Überprüfung gegen Muslime und den Islam gehetzt.

Schon aus dem Untertitel und dem Klappentext wird deutlich, dass es Sarrazin nicht um eine objektive oder sachliche Analyse geht. Stattdessen werden negative und populistische Argumente aneinandergereiht.

Es wird ein Szenario entworfen, was oberflächlich folgendermaßen aussieht: Die Anzahl der Muslime in Deutschland wächst. Parallel fällt der Anteil der Nichtmuslime. Irgendwann gibt es mehr Muslime als Christen und mehr Moscheen als Kirchen. Und in diesem Prozess wird alles, was deutsch ist, ausgelöscht. So banal, so ideologisch, so aufgeladen sind die Theorien im Buch. Deshalb schlägt er auch vor, sofort den Zuzug zu stoppen. So relativiert z.B. auch den gegenwärtigen Völkermord an den muslimischen Rohingya. Laut Sarrazin fühle sich die buddhistische Mehrheit eben durch die muslimische Minderheit in ihrer kulturellen Identität bedroht. Genau dieses Szenario, nämlich der kulturellen Entfremdung, zeichnet aber Sarrazin für Deutschland.

Im ersten Kapitel macht sich Sarrazin zum Theologen. Dabei ist seine Interpretation von Koran und der Aussprüche des Propheten Muhammed genauso radikal, wie die der Salafisten, die ebenfalls den Kontext von Textstellen ausblenden. Ein solches wortwörtliches Verständnis des Korans wird von 99% der Muslime abgelehnt. Sarrazin ist das egal, er nutzt dieses wortwörtliche Verständnis, um zu polarisieren. Ein wortwörtliches Koranverständnis kann demnach sowohl zum rechten als auch zum religiösen Fanatismus führen.

Wenn Sarrazin z.B. schreibt, dass in großen Teilen der “muslimischen Welt“ junge Mädchen beschnitten werden oder das muslimische Frauen sich nicht scheiden lassen können oder das eine Heirat unter Verwandten erlaubt sei, ist das kompletter Unsinn und widerspricht sowohl der islamischen Theologie als auch der Praxis. Mit nur wenig Aufwand hätte der Autor überprüfen können, dass diese und andere Fakten komplett gegen das islamische Verständnis sind. Aber auch sonst sind einfache Fakten, wie Ortsnamen, Jahreszahlen, Namensschreibweisen oder Koranverse ebenfalls falsch.

Auch seine gefühlten unendlichen Statistiken, die er auch schon in vergangenen Büchern verwendete, sollen zeigen: der Muslim ist einfach dumm. Das hat er in den Genen. Und die “islamischen Länder“, was immer das auch sein soll, sind rückständig. Dass er dabei in seinen Statistiken sogar Länder, in denen Muslime in der Unterzahl sind, also “islamische Länder“ verkauft, wie z.B. einige afrikanische Länder, ist ihm gelichgültig. Denn wie Winston Churchill schon einmal sagte, „Glaube keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast.“ So versucht Sarrazin auf mehreren Seiten mit Zahlen zu “beweisen“, dass der Islam eine Gefahr ist.

Auch hat man an vielen Stellen das Gefühl, dass Sarrazin den Islam als eine Ethnie wahrnimmt. So schreibt er dann immer über „die Muslime“ oder „die Kultur der Muslime“ und lässt völlig außer Sicht, dass der Islam ein Glaube ist und keine Ethnie. Pauschal hat man das Gefühl, dass er insgesamt alle Araber, Türken und Afrikaner als Muslime bezeichnet. Und alle anderen als Nichtmuslime. Dass es aber auch Araber, Türker, Afrikaner gibt, die keine Muslime sind und Millionen von Europäern, Amerikanern und vielen anderen, die Muslime sind, blendet er aus. Denn das würde mindestens die Hälfte seiner Theorien und Statistiken entkräften.

Auch die “Geschichte des Islams“ wird im Buch katastrophal wiedergegeben. Diese Geschichte deckt sich weder mit islamischen Quellen noch mit islamkritischen Quellen, die wenigstens eine sachliche Analyse leisten. Sarrazins “Geschichte des Islams“ dagegen liest sich wie eine Märchenstunde von Goebbels. Frei erfunden, vollgepackt mit Schreckensbildern, ohne jegliche Quelle.

Sarrazin und andere ähnlich argumentierende Autoren überspringen bewusst die vielen Jahrhunderte, in denen islamische Wissenschaftler die Fundamente der heutigen modernen Wissenschaft legten. Insbesondere das Mittelalter wird nur aus der Perspektive Europas betrachtet, als hätte die ganze Welt in dieser Zeitepoche wie Europa stagniert. Intellektuelle, kulturelle und wissenschaftliche Errungenschaften in Andalusien werden dadurch ausgeblendet. Mit dieser Betrachtungsweise entwickelt Sarrazin in seinem Buch eine Überheblichkeit, die an Narzissmus grenzt, und versucht damit dem Islam eine Rückständigkeit vorzuwerfen.

Im letzten Kapitel letztendlich wird Sarrazin zum “Pegida“-Versteher. Rassistische Kritik wird relativiert und die Angst vor dem Fremden wird permanent als Realität verkauft. Pegida, AfD, Reichsbürger und Selbstverwalter werden so zu “besorgten“ Bürger, denen man doch Verständnis zeigen müsste.

Insgesamt ist das Buch leider eine Bestätigung des Erwachens der rechten Kräfte in Europa. Vor 15 Jahren wäre ein solches Buch als Bestseller undenkbar. Zumindest hätte die große Mehrheit das Buch als überteuertes Klopapier genutzt. Gegenwärtig ist die Konjunktur jedoch bestens geeignet für solche sozialdarwinistischen und hetzerischen Thesen.

Cemil Şahinöz, IslamIQ, 08.09.2018

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(01.08.2018) Religion oder Kultur?

Religion oder Kultur?

Wenn man in Deutschland mit Muslimen kommunizierte, dann war es bis vor kurzem noch so, dass man es überwiegend mit Menschen mit türkischen Wurzeln zu tun hatte. Dementsprechend war das Islambild in den Köpfen der Menschen auch geprägt. Alles was “türkisch“ war, galt als “islamisch“ und umgekehrt.

Dass man dabei immer wieder Kultur und Religion verwechselt, wird es deutlich, wenn man auf Muslime aus anderen Kulturen trifft. Muslime aus Syrien, Kanada, Deutschland, China oder Australien sind kulturell sehr unterschiedlich. Ihr Glaube ist der gleiche, doch die Kultur, ihr Umgang im Alltagsleben ist eine andere. Und auch wenn man von dem einen und selben Glauben ausgeht, ist die kulturelle Praxis sehr vielfältig. Auf Grund der Vielfalt des Islams, gibt es auch keine einheitliche Entwicklung der Traditionen, wie Bauer in „Die Kultur der Ambiguität“ anschaulich darstellt.

Diese Unterscheidung ist freilich für einen Nichtmuslim nicht einfach. Wie soll man differenzieren, welche Handlung nun kulturell bedingt ist und welche religiös motiviert geschieht. Trotzdessen ist diese Unterscheidung jedoch im Umgang miteinander und vor allem in gesellschaftlichen Diskursen enorm wichtig.

Denn wer behauptet, die Benachteiligung der Frau wäre ein muslimisches Problem, muss erklären, warum es auf die Sicht und Rolle der Frau – ohne es positiv oder negativ zu konnotieren – zwischen muslimischen, christlichen, jezidischen und anderen Menschen aus der gleichen Region, z.B. aus Syrien, keine Unterschiede gibt. Der christliche Syrer hat die gleiche Sicht auf die Frau wie der muslimische Syrer oder der atheistische Syrer. Weder ist dann bei einer gegebenen Frauenfeindlichkeit die Bibel Auslöser noch der Koran. Ein christlicher Syrer, der frauenfeindlich ist, nimmt sich dieses Recht nicht aus der Bibel, ebenso ein muslimischer Syrer nicht aus dem Koran. Die Rolle der Frau kann für einen deutschen Muslim völlig anders aussehen, als für einen chinesischen Muslim oder für einen irakischen Christen. Weitere Paradebeispiele sind Themen wie Ehrenmord und Zwangsheirat, die hierzulande konsequent mit dem Islam in Verbindung gebracht werden, obwohl auch dies ein kulturelles Problem in bestimmten Regionen dieser Welt ist, ungelöst davon, welche Religion diese Menschen in diesen Regionen haben. Auch hier gilt, weder ist es die Bibel, noch der Koran, dass Zwangsheirat und Ehrenmord gebietet. In jeder Religion sind beide absolut unvereinbar und unverhandelbar. Es ist also an Hand vieler solcher Beispiele ersichtlich, dass hier ein kulturelles Phänomen vorliegt. Kultur und Religion werden bei solchen Beispielen immer wieder vermischt.

Deutlich wird auch, dass, Religion und Kultur selbstverständlich auch eine Schnittmenge haben, denn Religion ist einer von vielen Faktoren, die eine Kultur ausmacht, dass es aber auch Bereiche gibt, die im totalen Widerspruch zueinander stehen. Wenn es hart auf hart kommt, erlebe ich in der Familienberatung, dass sich gefühlte 90% für Kultur entscheiden, und nicht für Religion. In solchen Konflikten heißt es dann nicht, was die Bibel oder der Koran sagt, sondern was die Nachbarn sagen, was die Community sagt oder was Verwandte oder Freunde in der Heimat sagen.

Gleichwohl werden vielerorts jegliche Muslime als Koranexperten oder Theologen wahrgenommen. Wenn Siebtklässler in der Schule als Referatsthema erklären müssen, was nun der Dschihad bedeutet, ist das meistens kontraproduktiv. Genauso wie nicht jeder Christ ein Bibelexperte ist, kann nicht vorausgesetzt werden, dass jeder Muslim den Koran in- und auswendig kennt. Daher bekommt man in Diskussion öfters auch keine theologischen Antworten sondern eher kulturelle, weil die antwortenden Gesprächspartner evtl. keine hinreichenden theologischen Kenntnisse haben. Damit ist nicht der abwertende Begriff Kulturmuslime gemeint, sondern schlicht die Tatsache der theologischen Unkenntnis oder die Beschränkung auf minimale Kenntnisse. Denn viele kulturelle Praktiken berufen sich nicht auf theologische Quellen des Islams, sondern entstehen aus kulturellen Riten und Werten. Die theologischen Quellen sind dabei eindeutig: Koran, Sunna (Die Gewohnheiten des Propheten Muhammed), Meinungskonsens unter den islamischen Gelehrten und Analogieschlüsse.

Auf Grund der gegenwärtigen kulturellen Vielfalt der Muslime in Deutschland und der Globalisierung werden diese Unterschiede jedoch immer deutlicher. Man trifft in Deutschland eben nicht nur auf den türkischen Muslim, sondern auch auf den deutschen oder britischen Muslim, die jeweils ihre eigene Kultur haben. So entsteht in Deutschland eine Heterogenität der Muslime.

Auch die Sprache wird auffällig häufig mit einer Religion verbunden. Dies führt dann zu Irritationen, wenn christliche Araber „Allahu Akbar“ rufen, was schlicht und einfach „Gott ist groß (größer)“ bedeutet. Denn selbstverständlich sagen auch christlicher Araber „Allah“, weil dies die Übersetzung von „Gott“ ist.

Kultur gibt den Menschen eine Orientierung im Alltag. Aber auch Kultur ist ständig im Wandel. Von Generation zu Generation verändert sich Kultur, daher ist sie nichts Statisches und wird in Diskursen immer wieder ausgehandelt. Als die sogenannten Gastarbeiter in den 80´ern in ihre vermeintliche alte Heimat zurückkehrten, hatten sie Integrationsschwierigkeiten, weil sowohl sie selbst als auch ihre Heimat sich schon verändert hatte. So kamen einige nach wenigen Jahren wieder nach Deutschland zu ihrer neuen Heimat wieder zurück. In diesem langjährigen Prozess entsteht auch ein kulturell europäisch geprägter Islam, ohne die Glaubensinhalte oder –Praxis der Religion in Frage zu stellen oder gar sie reformieren zu wollen.

Dr. Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, August 2018

Huffington Post, 07.08.2018
https://www.huffingtonpost.de/entry/religion-oder-kultur_de_5b64b9b9e4b0eb29100e59f2

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(05.07.2018) Seelsorge im Islam

Seelsorge im Islam

 

Die Themen “Islamische Seelsorge“ und “Islamische Wohlfahrtspflege“ sind gegenwärtig die wichtigsten Themen der muslimischen Community in Deutschland und Europa. Aber nicht nur in der muslimischen Community, sondern auch auf der politischen und gesamtgesellschaftlichen Ebene werden diese Themen immer wichtiger. So sind beide Themen schon seit langem auf der Agenda der Deutschen Islam Konferenz, welches von der Bundesregierung organisiert wird.

 

Während im Christentum Seelsorge institutionalisiert und professionalisiert ist, übernahmen diese Aufgabe im Islam die nächsten Familienangehörigen und Freunde. So gibt es im Islam zwar nicht den Begriff der Seelsorge, aber inhaltlich existiert eine Seelsorgetätigkeit.

 

Sowohl im Koran als auch in den Aussprüchen des Propheten Muhammed finden sich viele Bereiche und Methoden der Seelsorge. Das bekannteste Narrativ, das man in diesem Kontext findet, ist folgender: „Allah, der Mächtige und Erhabene, wird am Tage der Auferstehung dem Menschen vorhalten: ´O Kind Adams! Ich erkrankte, doch Du besuchtest Mich nicht!´ Er wird antworten: ´O mein Herr! Wie hätte ich Dich besuchen können, wo Du doch der Herr der Welten bist?´ Allah wird erklären: ´Hast du denn nicht erfahren, dass mein Diener Soundso krank war, und du ihn nicht besuchtest? Hast du denn nicht gewusst, wenn du ihn besucht hättest, hättest du Mich bei ihm gefunden! O Kind Adams! Ich bat Dich um etwas zu essen, doch Mir gabst du nichts zu essen!´ Er wird antworten: ´O mein Herr! Wie hätte ich Dir etwas zu essen geben können, wo Du doch der Herr der Welten bist?´ Allah wird erklären: ´Hast du etwa nicht gewusst, dass Mein Diener Soundso dich um etwas zu essen bat? Hast du denn nicht gewusst, wenn du ihm etwas zu essen gegeben hättest, du sicherlich dafür Meine Belohnung erhalten hättest! O Kind Adams! Ich bat dich, Mir (Wasser) zu trinken zu geben, aber du gabst mir nichts zu trinken!´ Er wird sagen: ´O mein Herr! Wie hätte ich Dir zu trinken geben können, wo Du doch der Herr der Welten bist?´ Allah wird erklären: ´Mein Diener Soundso bat dich um Wasser, doch du gabst ihm nichts zu trinken! Hast du denn nicht gewusst, wenn du ihm zu trinken gegeben hättest, du deinen Lohn dafür bei Mir gefunden hättest?´“ (Muslim; Nawawi, 896).

 

Der Prophet Muhammed lebte Seelsorge in der Praxis aus. Zeyd, ein kleiner Junge im Umfeld des Propheten, hatte einen Vogel namens Umeyr, den er sehr liebte. Deshalb nannte der Prophet den Jungen auch Abu Umeyr, das so viel bedeutet wie “Vater des Umeyr“. Als Zeyds Vogel starb war er sehr betrübt über diesen Umstand. Daraufhin besuchte ihn der Prophet und übergab ihm seine Beileidsbekundung. In der Biographie des Propheten findet man Dutzende solcher Begegnungen, die Seelsorge widerspiegeln.

 

Diese Traditionen wurden in den muslimischen Gemeinschaften weitergelebt. So entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Alltagsseelsorge. Vor allem die Großfamilie bot den notleidenden Familienmitgliedern Seelsorge an. Öfters war es auch der Dorfvorsteher oder die Imame, die in Not gerufen wurden.

 

Die Ressource, dass die Community, Familie und Freunde Alltagsseelsorge leisten, steht aber in einer globalisierten, ausdifferenzierten Gesellschaft nicht mehr in solch einer Form zur Verfügung. Daher benötigen auch Muslime professionelle Seelsorger, die hierfür ausgebildet wurden.

 

Nicht nur veränderte Familienstrukturen, sondern auch durch die Migration haben sich Problemsituationen ergeben, die stärker eine Seelsorge unter der muslimischen Community bedürfen.

 

So entwickeln sich in Deutschland, aber auch in vielen andern Ländern Europas islamische Seelsorgeprojekte in den verschiedensten Disziplinen. Auch in der Türkei wurde kürzlich ein Kooperationsvertrag zwischen dem Gesundheitsministerium und der Religionsbehörde unterschrieben, demnach Seelsorger nach dem europäischen Modell in einem Pilotprojekt eingesetzt werden.

 

Was jedoch bislang gänzlich fehlt, sind Konzepte für die islamische Seelsorge und allen voran empirische Studien über die bisher angebotenen Seelsorgeprojekte in Deutschland. Diese Lücke soll die Arbeit “Seelsorge im Islam – Theorie und Praxis in Deutschland“ füllen. In der Arbeit wird theologisch und historisch Seelsorge im Islam aufgegriffen und an Hand von Koran, Hadith und Traditionen ein Konzept der islamischen Theologie entworfen.

 

Gleichzeitig gibt es die ersten empirischen Ergebnisse zu Seelsorgeprojekten in Deutschland. Dafür wurden verschiedene Seelsorgedisziplinen, wie z.B. Krankenhausseelsorge, Notfallseelsorge, Gefängnisseelsorge, Telefonseelsorge, Seniorenseelsorge, Flüchtlingsseelsorge, Gemeindeseelsorge, Psychiatrieseelsorge, Militärseelsorge, Onlineseelsorge für diese Arbeit analysiert. Knapp 120 islamische Seelsorgeangebote in Deutschland wurden untersucht, Experteninterviews mit sowohl Seelsorgern als auch mit Ausbildern von Seelsorgern wurden durchgeführt. Fragebögen, Auswertung von Curricula und anderen Dokumenten (über 1000 Dokumente) waren ebenfalls Bestandteil der Arbeit. Auch wurde ein Vergleich mit den Ländern Dänemark, England, Frankreich, Italien, Kanada, Niederlande, Österreich, Schweiz, Türkei und USA gemacht, um zu schauen, wie in diesen Ländern islamische Seelsorge angeboten und durchgeführt wird.

 

Als Fazit kann gesagt werden, dass die islamische Seelsorge in Deutschland dringend standardisiert, professionalisiert und institutionalisiert werden muss. Hierfür muss natürlich auch die finanzielle Frage geklärt werden, da bisher, bis auf eine Handvoll Personen, die Seelsorger ehrenamtlich tätig sind.

 

Gleichzeitig fällt auf, dass viele Projekte, die das Label “Islamische Seelsorge“ tragen, gar keine Einzelgespräche anbieten. Dies ist jedoch der Kern der Seelsorge und darf nicht vernachlässigt werden. Besonders im Bereich der Gefängnisseelsorge ist es auffällig, dass kaum Einzelgespräche mit Inhaftierten stattfinden. Daher ist eine Standardisierung, was Seelsorge ist und was nicht, gerade in der Entstehungsphase der islamischen Seelsorge so wichtig.

 

Da der Aufbau einer solchen institutionalisierten, professionalisierten und standardisierten Seelsorge gegenwärtig eine Mammutaufgabe für die islamische Community in Deutschland ist und alleine nicht bewältigt werden kann, ist es sinnvoll mit christlichen Einrichtungen, die seit Jahrzehnten Seelsorge anbieten und Know-How haben, und der Politik, wie z.B. auf der Bundesebene auf der Deutschen Islam Konferenz aber auch auf der Landesebene, zu kooperieren. In diesem Sinne scheint auch die Gründung eines Spitzenverbandes der muslimischen Wohlfahrtspflege, welches die Seelsorge koordinieren könnte, nicht ganz abwegig zu sein.

 

Dr. Cemil Şahinöz, Islamische Zeitung, Juli 2018

Huffington Post, 31.07.2018
https://www.huffingtonpost.de/entry/dieses-thema-bewegt-muslime-in-deutschland_de_5b4c9b07e4b02538dbcaf457

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